Sozistunden 12975 alte Version - EU - Durchsetzungschancen der EU-Zukunftsszenarien - eine "veraltete" Unterrichtsstunde vom 28.10.2016 (Sozi LK 13)


Die Unterrichtstunde erscheint zwar aus heutiger Sicht veraltet und wurde inzwischen aktualisiert.



Politische Bedeutung der Szenarios „Offener Gravitationsraum“

  • Das Zukunftsszenario eines „Offenen Gravitationsraums“, das es von Wissenschaftlern des „Centrums für angewandte Politikforschung“ in München beschrieben wurde, geht auf die von Schäuble und Lamers in den 90er Jahren entworfenen „Idee eines Kerneuropas“ zurück: Die zentralen Gedanken des Szenariums „Offener Gravitationsraums“ sind mit der in den 90er Jahren entworfenen „Keneuropa“-Idee der CDU-Außenpolitiker Lamers und Schäuble nahezu identisch:   
  • „Im Offenen Gravitationsraum verfolgt eine der Gemeinschaftsmethode verpflichtete Avantgarde das Ziel einer kontinuierlichen Integrationsvertiefung. Das Zentrum des Gravitationsraums bildet dabei die Gruppe der Länder, die sich an den meisten Integrationsprojekten beteiligen. …
  • Der Gravitationsraum ist dabei keineswegs "geschlossen", sondern "offen":
  • Dabei wird jedem Mitgliedstaat die Teilnahme am Instrument der "Verstärkten Zusammenarbeit ermöglicht.“ 
  • Beide Konzepte sind allerdings nicht völlig deckungsgleich: Schäuble und Lamers äußern sich „politischer“ als die „neutralen“ Wissenschaftler des „Centrums für angewandte Politikforschung“ in München dies tun: Ihrem liberal-konservativen Politikverständnis folgend fordern sie, dass sich die EU stärker am Prinzip der Subsidiarität (und nicht an dem uneingeschränkter europäischer Solidarität) orientiert: Probleme sollten so weit wie möglich vom Einzelnen, von der kleinsten Gruppe (z. B. der Familie) oder auf der untersten Ebene einer Organisation oder „vor Ort“ gelöst werden: So sollte auch die EU nur tätig werden, wenn die Maßnahmen der Mitgliedsstaaten nicht ausreichen.
  • Schäuble und Lamers wünschen für „ihr künftiges „Kerneuropa“, dass es ich am deutschen  „Modell eines föderativen Staatsaufbaus“ orientiert, ein Gedanke der im Szenarium "Offener Gravitationsraum"  nicht auftritt und eher dem eher dem wissenschaftlichen Szenarium  „Supermacht Europa“ zuzuordnen ist.

Was spricht für die Durchsetzung des Szenarios „Gravitationsraum Europa“?
 

        In einem gewissen Umfang ist die mit diesem Szenario verbundene Kerneuropa-Idee bereits heute in das europäische Recht umgesetzt: Schon lange werden – etwa im Rahmen des Schengener Abkommens, an dem nicht alle EU-Mitgliedstaaten teilnehmen -  Möglichkeiten einer „Abgestuften Zusammenarbeit“ praktiziert.       

 

          Für eine verstärkte Durchsetzung des Kerneuropa-Gedankens spricht, dass die Idee immer dann Konjunktur hat, wenn EU in der Krise steckt:
So forderte der deutsche Finanzminister Schäuble
  zu Beginn des Jahres 2016 angesichts der Flüchtlingskrise: "Lasst uns eine Koalition der Willigen machen … Wer immer kann, soll tun. Aber wir können nicht mehr so lange warten, bis wir in Brüssel Ergebnisse haben."  (vgl.: http://www.sueddeutsche.de/politik/wolfgang-schaeuble-koalition-der-willigen-1.2831982)
 

        An einem ersten informellen Treffen nach Bekanntgabe des Ergebnisses des britischen Referendums trafen sich nur die Außenministern der sechs „kerneuropäischen“ Gründungsstaaten (Deutschland, Frankreich, Italien, Benelux-Länder).

         Als in den Tagen darauf der Fahrplan in Sachen „Brexit“ besprochen wurde, trafen nur die die Regierungschefs von Deutschland, Frankreich und Italien.

 

          Beim ersten EU-Gipfel nach der Brexit-Abstimmung, an dem alle Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer teilnahmen, wurde dann klar, dass die überwiegende Mehrheit der EU-Staaten ein «Europa à la carte» (welches dem Szenarium „Geschlossenes Kerneuropa“ entspricht), ablehnt.

Was spricht für die Durchsetzung des Szenarios „Gravitationsraum Europa“?

 

Es lassen sich aber auch Argumente anführen. die gegen eine rasche Umsetzung des mit dem Szeanrio „Offener Gravitationsraum“ verbundenen Kerneuropa-Idee sprechen:

 

      Das Instrument der „verstärkten Zusammenarbeit“, das den EU-Mitgliedsstaaten seit dem Vertrag von Amsterdam zur Verfügung steht, wurde bisher nur relativ selten (z. B. im Scheidungsrecht und auf dem Gebiet des EU-Patentrechts) genutzt.       

          Zur Zeit spricht wenig für die Hoffnung, dass von den kerneuropäischen Staaten eine „zentripetale“ Sogwirkung ausgehen kann. – Die zentrifugalen Kräfte innerhalb der Eu scheinen zu dominierendies zeigt nicht nur der anstehende Brexit.

        Auch in der Flüchtlingskrise 2015 distanzieren sich die vier osteuropäischen Visegrad-Länder (Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei) gegen Pläne zur dauerhaften Umverteilung von Flüchtlingen innerhalb Europas. (Visegrad-Gruppe werden die vier Länder nach dem ungarischen Ort ihres ersten Treffens genannt.)
 

        Auch zwischen den großen Staaten Italien, Frankreich und Deutschland (ohne die ein kerneuropäischer Gravitationsraum nicht denkbar wäre) gibt es unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie die künftige Ordnung Europas aussehen sollte:

 

         Aus Sicht des deutschen Finanzministers Schäuble ist der Ansehensverlust der EU auch darauf zurückzuführen, dass "viele Regeln, die wir aufgestellt haben, nicht eingehalten wurden". Insofern wäre der Brexit gewissermaßen der Ausdruck des Wunschs nach weniger Staatsschulden. Länder wie Frankreich oder Italien wehren sich gegen strenge Strafen bei Verstößen gegen die Schuldenregeln, [die von deutscher Seite gefordert werden.] (vgl.: http://www.zeit.de/2016/29/eu-reformen-brexit-sparpolitik-banken)


Politische Bedeutung der Szenarios „Geschlossenes Kerneuropa“

Weniger integrationswillige Staaten wie Großbritannien interpretieren die  „Kerneuropa“-Idee bzw. die Vorstellung von einem „Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“ ganz anderes, als sie von Schäuble und Lamers gedacht war: Sie bevorzugen das Konzept eines „Europa a `la carte“, indem sich die Mitgliedstaaten sich nur auf ein Minimum an Zielen einigen sollten, die für alle beteiligten Länder, alle verbindlich sind: Ein solches Ziel wäre (aus britischer Sicht) vor allem der Erhalt des Binnenmarktes.

 

Das von Wissenschaftlern des „Centrums für angewandte Politikforschung“ in München beschriebene Szenario eines „Geschlossenen Kerneuropa“ greift diese Forderungen auf:  

Im „Geschlossenen Kerneuropa“ besteht unter den Mitgliedstaaten kein Konsens hinsichtlich der künftigen Entwicklung der Europäischen Union. Angesichts widersprüchlicher Vorstellungen vom weiteren Prozess der Integrationsvertiefung reduziert sich die traditionelle EU, die weiterhin alle Mitgliedstaaten umfasst, auf das Management des Binnenmarkts.

Eine kleine, geschlossene“ Gruppe von Mitgliedstaaten entschließt sich zu einer Zusammenarbeit außerhalb des vertraglichen Rahmens.

 

Vgl. hierzu: Franco Algieri, Janis A. Emmanouilidis, Roman Maruhn (Centrum für angewandte Politikforschung): Europas Zukunft. 5 Eu-Szenarien; am 12.12.2014 abgerufen unter folgender URL: http://www.cap.uni-muenchen.de/download/2003/2003_cap_szenarien.pdf sowie:

Seite „Europa der zwei Geschwindigkeiten“. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 20. Februar 2016, 13:06 UTC. URL:https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Europa_der_zwei_Geschwindigkeiten&oldid=151708104 (Abgerufen: 11. Oktober 2016, 09:25 UTC)


Durchsetzungschancen des Szenarios „Geschlossenes Kerneuropa“

Auch die Durchsetzungschancen des Szeanarios „Geschlossenes Kerneuropa“ erscheinen zur Zeit eher gering:  

Zwar träumen die Briten von der Vorstellung eines „Europa à la carte“ und hoffen „sich über ein umfassendes Freihandelsabkommen den Zugang zum Binnenmarkt zu sichern. Sie hoffen dabei auf ein „Gentlemen’s Agreement“, eine Trennung gütlicher Art.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker drohte aber schon: „Der Deserteur wird nicht mit offenen Armen empfangen.“ Hinter vorgehaltener Hand ließen EU-Politiker wissen, dass ein Exempel statuiert werden könnte. Ziel: Nachahmer abschrecken.“
https://www.welt.de/politik/ausland/article156520000/Was-bedeutet-das-Brexit-Votum-fuer-Deutschland.html

 

Beim ersten EU-Gipfel nach dem Brexit-Votum haben die EU-Regierungschefs ihren britischen Kollegen David Cameron vor Illusionen gewarnt. "Es gibt kein 'ein bisschen drin' und 'ein bisschen draußen' bei einer Scheidung", sagte Luxemburgs Ministerpräsident Xavier Bettel.  

[Und die deutsche Kanzlerin] Merkel warnte Cameron: "Die Verhandlungen werden nicht nach dem Prinzip der Rosinenpickerei geführt." Sie sagte weiter: "Wer aus dieser Familie austreten möchte, kann nicht erwarten, dass alle Pflichten entfallen, die Privilegien aber bleiben." Es müsse und es werde einen spürbaren Unterschied machen, ob ein Land Mitglied der Familie der EU sein möchte oder nicht.

 

Vgl.: http://www.spiegel.de/politik/ausland/brexit-gipfel-eu-warnen-briten-a-1100276.html


Politische Bedeutung und Durchsetzungschancen des Szenarios „Supermacht Europa“

Auch Ideen, die mit dem Szeanario „Supermacht Europa“ verbunden sind, werden nach dem Brexit wiederbelebt:

So fordert der „Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, Konsequenzen aus dem Brexit-Referendum. Der deutsche SPD-Politiker schlägt vor, die Europäische Kommission zu „einer echten europäischen Regierung“ umzubauen. Das schreibt er in einem Beitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“.

Die EU-Regierung solle „der parlamentarischen Kontrolle des Europaparlaments und einer zweiten Kammer, bestehend aus Vertretern der Mitgliedstaaten, unterworfen“ sein, fordert Schulz, der in Brüssel als wortgewaltig und als mächtigster Parlamentspräsident aller Zeiten gilt. Das sei den Menschen aus ihren Nationalstaaten bekannt und werde „politische Verantwortlichkeit auf der EU-Ebene transparenter machen“.

https://www.welt.de/politik/ausland/article156776864/Schulz-nach-Brexit-Votum-fuer-eine-echte-EU-Regierung.html

Schon sich seit der EU-Finanzkrise konnten sich einige Staats -und Regierungschefs der Mitgliedstaaten mit der Vorstellung einer gemeinsamen EU-Regierung anfreunden, darunter François Hollande.

 

Dennoch erscheint dieses Szenario kurzfristig kaum durchsetzbar: 

 

Nicht nur wegen des Widerstands vieler nationaler Regierungen (wie z. B. der deutschen), sondern auch aufgrund der Vorbehalte der EU-Bürger (der sich z. B. in den Stimmengewinnen europaskeptischer Parteien (wie UKIP und AFD zeigt).