Sozistunde 12930 - Einstimmigkeit in der EU




 

alpha-demokratie 18.03.2019 - Einstimmigkeit in der EU

 

29 Min (Online bis 26.02.2024)

 

https://www.br.de/mediathek/video/alpha-demokratie-18032019-einstimmigkeit-in-der-eu-av:5c41aeb5e1c0150018c0abc4

 

 

 

Moderatorin Mirjam Kottmann: 28 Mitglieder, 28 verschiedene Voraussetzungen, Interessen und Pläne. Und dennoch sollen die 28 EU-Mitgliedsländer meistens einer Meinung sein - schwierig. Der Zwang zum Konsens lähmt  die EU, sagen Kritiker.    

 

Das Einstimmigkeitsprinzip in der EU, das ist unser Thema jetzt in alpha-Demokratie. 

 

 

 

Die Europäische Union, zu behäbig, zu langsam zu entscheidungsschwach? Diese Vorwürfe hört man immer wieder. Ein Grund: Das Einstimmigkeitsprinzip. Und das gilt in vielen wichtigen Bereichen: Zum Beispiel in der Außen-, Sicherheits-. und Verteidigungspolitik.  

 

Wären hier Mehrheitsbeschlüsse besser? Was hätte das für Konsequenzen?

 

Darüber möchte ich jetzt sprechen mit dem Politikwissenschaftler Dr. Andreas Kalina von der Akademie für politische Bildung in Tutzing.  

 

[…]Zunächst ein Zitat: Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat [am 18.02 2019] dafür plädiert, das Einstimmigkeitsprinzip abzuschaffen. Wörtlich hat er gesagt: „Einstimmigkeitsprinzip heißt, das der Langsamste alles blockieren kann.“

 

Ja, Herr Dr. Kalina, wie kommt denn ausgerechnet der Ex-Bundesfinanzminister darauf, das Einstimmigkeitsprinzip in Frage zu stellen? Denn er war doch immer derjenige, der die soliden deutschen Staatsfinanzen durch Brüssel in Gefahr sah und jetzt will er das Risiko eingehen, dass die deutsche Position überstimmt wird?       

 

 

 

Dr. Andreas Kalina: Ach, man könnte das mit einem Augenzwinkern als konsequent sehen, weil Wolfgang Schäuble war ja nicht nur Finanzminister, sondern er war ja schon vorher in einer Parteifunktion und wenn man sich seine gesamte Zeit anschaut,  hat er Mitte der 90er Jahre gemeinsam mit Karl Lamers ein Papier auf den Weg gebracht, wo er auch schon strategisch über die Zu8kunft der Europäischen Union nachdachte.

 

In der Zwischenzeit war er tatsächlich Fachpolitiker, Finanzminister und da hat er auf die Staatsfinanzen geschaut. Aber als Parlamentspräsident, als Präsident des Bundestages hat er wieder die Perspektive eines Staatsmannes und fokussiert das Große und Ganze. Und in diesem Zusammenhang bleibt er sich eigentlich konsistent.         

 

 

 

Moderatorin Mirjam Kottmann:     

 

Aber hat nicht Deutschland Angst vor Mehrheitsvoten, gerade in der Finanzpolitik, wenn es geht um Nord gegen Süd, um Marktwirtschaft versus Unterstützung aus Brüssel?  

 

 

 

Dr. Andreas Kalina:

 

Das mag zwar so klingen, aber auf der anderen Seite kann man sich nicht herauspicken, wo man Mehrheitsvoten macht und wo das Einstimmigkeitsprinzip herrscht.

 

Es ist eine Art Grundsatzentscheidung. Wenn ich z. B. in der Migrationspolitik Einstimmigkeit abschaffen möchte und stärker auf Mehrheitsentscheide abstellen möchte, muss ich auch in andere Politikfelder schauen. Und da ist es wiederum im Interesse der anderen Staaten, in Richtung Mehrheitsentscheidung zu gehen, damit gerade Deutschland nicht so stark blockiert. Insofern muss man hier auch aus einer Gemeinschaftsperspektive denken […] und das ist die Perspektive, die Schäuble jetzt wahrnimmt, der Europäer, der als Staatsmann die Zukunft Europas gestalten möchte.  

 

 

 

Sendeminute 3,5

 

Moderatorin Mirjam Kottmann:

 

Ja wie genau kommen denn Entscheidungen in der EU zustande? Wann gilt das Einstimmigkeits- und wann das Mehrheitsprinzip? […]  

 

Sprecherin: Eine der obersten Entscheidungsinstanzen der EU: Der Ministerrat. In ihn entsenden alle 28 Mitgliedsländer ihre Fachminister: Das heißt, im Ministerrat kommen die zuständigen Minister aus diesen 10 Politikfeldern zusammen:

 

  1. Landwirtschaft
  2. Wettbewerb
  3. Wirtschaft/Finanzen
  4. Umwelt
  5. Arbeit
  6. Bildung
  7. Außenpolitik
  8. Allgemeine Angelegenheiten
  9. Justiz/Inneres
  10. Verkehr/Energie

 

 

 

In denn meisten Bereichen reicht für Beschlüsse bereits eine qualifizierte Mehrheit. 

 

Das bedeutet: 55% der Mitgliedsstaaten, die zudem mindestens 65% der EU-Bevölkerung repräsentieren.

 

Einstimmigkeit ist nur in besonders heiklen Politikfeldern erforderlich: 

 

Etwa bei der Sozialen Sicherheit oder der Polizei-Zusammenarbeit zwischen den EU-Ländern, vor allem aber in der Steuerpolitik und der Gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik und wenn es um den Beitritt neuer Länder zur EU geht.

 

 

 

Moderatorin Mirjam Kottmann:

 

Ja, einstimmig heißt im Prinzip 28 Staaten, die von 28 Regierungen mit 28 Interessen und 28 Parlamenten gesteuert werden, müssen einer Meinung sein. Woher stammt denn diese Prinzip eigentlich?

 

 

 

Dr. Andreas Kalina: Das ist eigentlich das ursprüngliche Prinzip seit den Anfängen der  Integration, wo wir natürlich von einer EG der 6 (später einer EG der 12) reden, dann die Europäische Union mal der 24, mal der 28.  In den Anfängen war es viel leichter, in einer EG der sechs Staaten eine einheitliche Meinung herzustellen. Dies mit [der heutigen] Heterogenität nicht so leicht.

 

Auf der anderen Seite: Der Grundgedanke liegt ja darin, dass es eine Zusammenkunft souveräner Staaten ist, das heißt die Legitimation, die liegt bei den Einzelstaaten, Wenn die Europäische Union Verbindliches entscheidet, muss es auch legitimiert sein. Und weil die Euopäische Union kein einheitlicher Staat ist, mit einem einheitlichen Volk, sondern sich aus diesen Staaten zusammen setzt, ist es gerade in besonders heiklen Politikfeldern relevant, dass jeder Staat mitentscheidet und im Umkehrschluss auch die Fähigkeit hat, eine Entscheidung zu blockieren, die gegen seine zentralen Staatsinteressen geht.

 

 

 

Moderatorin Mirjam Kottmann:

 

Welche Vorteile hat denn diese Einstimmigkeitsprinzip, vielleicht gerade in denn entscheidenden Poltikfeldern?  

 

 

 

Dr. Andereas Kalina: Die Vorteile sind, das kein Staat überstimmt werden kann. Wenn jeder Staat seine Interessen einbringen kann, kann er sich auch mit der Politik der Gemeinschaft identifizieren und auf der anderen Seite führt das auch dazu, dass die Bürger dieses Staates durchaus auch gewillt sind, diese Entscheidung, die aus Brüssel kommt zu tragen und zu akzeptieren.    

 

Das ist das Positive an der Einstimmigkeit, gerade in einer heterogenen Gemeinschaft.

 

 

 

Moderatorin Mirjam Kottmann:  Jetzt haben wir aber auf der einen Seite diesen europäischen Urgedanken der Einstimmigkeit, der ja viel einfacher [zu verwirklichen] war, als es noch sechs Mitglieder waren, aber auf der anderen Seite gibt es heute immer mehr Themen, wo schnell entschieden und eindeutig werden muss. Wie passt denn das zusammen, wie bekommt man das zusammen?

 

 

 

Sendeminute 6

 

Dr. Andreas Kalina: Das ist gerade das heutige Dilemma: Es sind nicht mehr die sechs Staaten, sondern 28, d. h. eine viel größere Heterogenität der Staaten, die unter einen Hut gebracht werden können und dann kommt tatsächlich der zweite Aspekt: Die Europäische Union entscheidet heute nicht nur über einige wenige Politikfelder, sondern eigentlich über die meisten Politikfelder und dass führt jetzt zu der Situation, das wie nach wie vor gewisse Politikfelder haben, wo einstimmig  entschieden werden muss und wo dann 28 Staaten auf Linie gebracht werden müssen.

 

Und das sind die Politikfelder, wo es zu Blockaden kommt, wo es langsame Entscheidungen gibt, wenn es überhaupt Entscheidungen gibt.

 

 

 

Moderatorin Mirjam Kottmann:  Jetzt haben sie es gerade schon angesprochen - diese Politikfelder. Im Verlauf der Jahrzehnte wurden, es immer weniger Politikbereiche, in den der Rat einstimmig beschließen musste. […] Was waren denn die Gründe für die Abkehr von dieser Einstimmigkeit?

 

 

 

Dr. Andreas Kalina: Eigentlich zwei Gründe, wenn man das vereinfachen möchte: Auf der einen Seite tatsächlich der Wille, entscheidungsfähig zu sein – und je mehr Mitglieder die EU hat, um so weniger ist man entscheidungsfähig, wenn die Einstimmigkeit erforderlich ist.

 

Und auf der anderen Seite gerade [der Wille zur europäischen] Integration, d. h. dass immer mehr Politikfelder europäisch gesteuert werden und dann ist gerade eine möglichst schnelle Entscheidungsfähigkeit und das läüsst sich mit der Einstimmigkeit nicht vollziehen. Und vor diesem Hintergrund können sie die gesamte Entwicklung der Europäischen Union nachzeichnen, wo immer mehr Politikfelder diesen Mehrheitsbeschluss zugeführt worden sind, wo qualifizierte Mehrheit möglich ist.

 

Und heutzutage können bereits 80% der Entscheidungen im Ministerrat durch qualifizierte Mehrheit getroffen werden.      

 

 

 

Moderatorin Mirjam Kottmann: Aber fordern diese Mehrheitsbeschlüsse nicht deutlich mehr Kompromissbereitschaft, als einfach nur dagegen zu sein?

 

 

 

Dr. Andreas Kalina: Auf jeden Fall, aber da ist gerade auch das Zentrale, weil die Europäische Union möchte Probleme lösen, aber nicht aus der Perspektive einiger weniger Staaten, sondern aus einer Gemeinschaftsperspektive. Und wenn sie die Einstimmigkeits-Regel haben führt das dazu, das einzelne Staaten sich quer stellen können … bzw. auch die anderen erpressen können. Erpressen in dem Sinne. Wir stimmen nur dann zu, wenn ihr uns in anderen Punktenn entgegen kommt. Und am Ende kommt ein Kuhhandel heraus, der nicht ganz angemessen ist. Und die Mehrheitsentscheidung wirkt hier eigentlich disziplinierend.       

 

Weil: Wenn ich als Staat eine Minderheitsposition vertrete […], stelle ich mich nicht quer, sondern versuche, […] kompromissfähig zu sein, um zumindest gewisse Positionen, die mir nahe stehen, in das Paket hineinzukriegen.    

 

Und das führt dazu, dass man einerseits schneller zu einer Entscheidung kommt, und andererseits, dass diese Entscheidung auch qualitativer ist, weil man konstruktiv dagegen arbeitet.   

 

 

 

Sendeminute 10

 

Moderatorin Mirjam Kottmann: Ein  wichtiger Bereich, in dem auch das Einstimmigkeitsprinzip gilt, ist die Steuerpolitik. Ein heißes Eisen, denn es geht um viel Geld […]. Deutschland und Frankreich haben einen  Vorstoß unternommen:

 

 

 

Sprecherin: Apple, Amazon, Starbucks - Beispiele für internationale Konzerne, die schon Steuervorteile in EU-Ländern genutzt haben. Die niedrigen  Unternehmessteuersätze in Ländern wie Irland, Luxemburg oder den Niederlanden sind ihnen ein Dorn im Auge: Finanzminister Olaf Scholz und sein französischer Amtskollege Bruno Le Maire im Kampfe gegen Steuerflucht.

 

 

 

Olaf Scholz: In Hinblick auf die großen Digitalunternehmen, die es viel doch einfacher haben, irgendwie nirgendwo Steuern zu zahlen, was zu Recht auf großen Widerstand und Ärger bei denj Bürgerinnen und Bürgen unserer Länder trifft.

 

Sprecherin: Dazu sollen Niedrigsteuerländer künftig in der EU überstimmt werden können, das Prinzip der Einstimmigkeit in Steuerfragen über den Haufen geworden werden.

 

Dafür nötig wäre allerdings: Einstimmigkeit – und die Niederlanden sperren sich schon einmal. 

 

Menno Snel (niederländisches Finanzministerium): Diesen Vorschlag werden wir sicherlich diskutieren, aber es wird heute sicherlich nicht viel dazu passieren. 

 

Sprecherin: Das deutsch-französische Duo will dran bleiben, zu wichtig sind Steuereinnahmen von Wirtschaftsgiganten für ihre Haushalte.

 

 

 

Moderatorin Mirjam Kottmann: Ja, die Niederlande haben kein Interesse daran, etwas zu ändern: Heißt dass, mit der teilweisen Abschaffung der Einstimmigkeitsregel [in Steuerfragen] wird es schwierig?

 

 

 

Dr. Andereas Kalina: Es wird schwierig, aber ich sehe schon noch das Potential, dass man zu einer Einigung kommen kann. Den Horizont, den man hier verfolgt, ist bis 2025 zu Mehrheitsentscheidungen zu kommen. Die Europäische Kommission hat auch eine entsprechende Initiative zu Laufen gebracht.    

 

Und auch hier gilt, dass im Vorfeld gewisse „package-deals“ (also Kuhhandel) getroffen. Man wird aushandeln, dass z: B. den Niederlanden in einer gewissen Position entgegen gekommen wird, und im Gegenzug werden die Niederlande dafür in diese Richtung schwenken.        

 

Insgesamt ist es so: Es geht hier nicht um Mehrheitsentscheidung in der Steuerpolitik, […] sondern hier geht es um die Bekämpfung von Steuerflucht und das ist auch in den ureigenen Interesse von den Niederlanden und insofern sehe ich schon ein Kompromissfeld, aber es wird sicherlich ein langes Aushandeln notwendig werden.    

 

 

 

Moderatorin Mirjam Kottmann: Denken Sie, dass man Steuerschlupflöcher mit Mehrheitsentscheidungen besser stopfen kann?

 

 

 

Dr. Andreas Kalina: Ich glaube, tatsächlich schon, denn da sind wir wieder bei der grundsätzlichen Entscheidung. Einstimmigkeits-Entscheidungen werden den Staaten ein Blockade-Potential verliehen und dann wird man nicht zu einer einvernehmlichen Lösung kommen, weil man ja verschiedene unterschiedliche Steuersysteme in Europa hat … und die 28 einstimmig hinter eine bestimmte Position zu bringen, ist schwierig. Wenn Sie Mehrheitsentscheidungen haben, kann man das machen, Vor allem aber, wenn man bedenkt, dass die Mehrheitsentscheidung vor allem durch so kombinierte Geschäfte, kombinierte Entscheidungen getragen werden können. Das heißt: Diese Mal gehe ich einen Schritt auf die anderen zu, aber in einer anderen Frage ... werden mir die anderen entgegen kommen.  […]      

 

 

 

Moderatorin Mirjam Kottmann: Wie bewerten Sie den deutsch-französischen Vorstoß, glauben Sie, wenigstens die beiden sich einig?

 

 

 

Dr. Andreas Kalina: Nein, sind sie sich auch nicht. Sagen wie mal so, in der Grundsatzfrage schon. Es geht darum, Steuerschlupflöcher zu stopfen und eine faire Steuererhebung im Rahmen Gesamteuropas umzusetzen. Wie man das macht, da sind schon die ersten Konflikte am brodeln, weil beispielsweise Deutschland und Finanzminister Scholz, stellt sich dem Aspekt entgegen, eine Steuertransparenz an den Tag zu legen, da sind andere Staaten deutlich weiter, da blockiert Deutschland. Das heißt insgesamt möchte Deutschland eine stärkere Steuerharmoniseirung, aber in Details sind die Vorschläge der Europäischen Kommission aber auch Frankreichs vielleicht etwas zu weit für die deutsche Position.

 

 

 

Moderatorin Mirjam Kottmann: Sie reagieren vielleicht deshalb alle so empfindlich, weil die Steuerpolitik als elementarer nationaler Souveränität gilt?

 

 

 

Dr. Andreas Kalina: Das auf jeden Fall. Es gibt auch andere Bestandteile der nationalen Souveränität: Die Außen- und Sicherheitspolitik beispielsweise. Es kommt immer darauf an,  inwieweit die Politik – und da spreche ich sowohl von der nationalstaatlichen als auch von der Brüsseler, der europäischen Politik – Entscheidungen zu begründen.          

 

Das heißt, wenn Brüssel den nationalstaatlichen Bevölkerungen glaubhaft vermitteln kann;: Wo liegt der Mehrwert einer solchen Entscheidung? Weshalb machen wir das? Weshalb bedarf es einer Kompetenz auf der europäischen Ebene? Wenn man das glaubhaft vermitteln kann, bekommt man auch die Legitimation dafür … Da sehe ich gerade den großen Nachholbedarf:  Nämlich dass nationalstaatliche Politiker auf der Brüsseler Bühne, aber auch europapolitische Akteure zu wenig erklären, dass es für die einfachen Bürger, die die Demokratie tragen, nachvollziehbar ist, weshalb diese Kompetenz aus der Domäne des Nationalstaats auf die europäische Ebene kommt […]          

 

 

 

 

 

Sendeminute 16          

 

Moderatorin Mirjam Kottmann: Ja, wir leben in den Zeiten den Umbruchs, gerade in der Außenpolitik und es gibt immer mehr Themen, in den die EU eigentlich schnell und eindeutig reagieren müsste. Doch die Europäische Union tut sich da schwer.

 

Dass ist auch immer wieder Thema, z.B. bei der [55.] Münchener Sicherheitskonferenz [im Februar 2019].

 

 

 

Sprecher: Eröffnung der Konferenz … durch den Tagungsleiter Wolfgang Ischinger   

 

… zeigt sich tief besorgt um Europa.   

 

 

 

Wolfgang Ischinger: Wir erleben derzeit eine epochale Verschiebung. Eine neue Ära des Wettbewerbs zwischen den Großmächten. Europa muss für sich selbst sprechen und handeln.    

 

 

 

Sprecher: Verteidigungsministerin von der Leyen nahm [im Februar 2019] die Europäer in die Pflicht: Europa müsse in der Lage sein, Krisen und Konflikte auf dem eigenen Kontinent selbst zu lösen. Allerdings gemeinschaftlich und nicht in Alleingängen, so die Ministerin.

 

 

 

Ursula von der Leyen: In einer global vernetzen Welt wird es nicht anders gehen, als dass wir zusammen arbeiten. Alleingänge […] sind nicht die Zukunft. […]   

 

 

 

 

 

Moderatorin Mirjam Kottmann: Ja, die Verteidigungsministerin [von der Leyen …] fordert  (und das hat sie bei anderen Gelegenheiten geäußert), Mehrheitsbeschlüsse. Braucht es einen Realitäts-Check in der Außen und Sicherheitspolitik?   

 

 

 

Dr. Andreas Kalina: Das braucht sie auf jeden Fall, weil die außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen haben sich in den letzen Jahren grundlegend verändert. Wir können beim Irak-Krieg anfangen, wir können und die Zeit in Afghanistan anschauen, die Zeiten terroristischer Anschläge in Europa, die Zeit der Präsidentschaft Trumps. Da ist es tatsächlich notwendig, europäisch stärker gemeinsam aufzutreten und wenn es erforderlich ist, schnell, vernehmbar und mit einer Stimme aufzutreten.      

 

 

 

Moderatorin Mirjam Kottmann: Aber das ist schwierig, weil die 28 Mitgliedsstaaten gerade außenpolitisch unterschiedliche Interessen haben. Wie kann das funktionieren?

 

 

 

Dr. Andreas Kalina: Das ist tatsächlich auch eine der Kernfragen der europäischen Integration, weil man auf der einen Seite betont, dass man Teil einer Wertgemeinschaft ist. Und diese Wertegemeinschaft hat natürlich auch Demokratievorstellungen in Bezug auf die internationale Welt.  Auf der anderen Seite gibt es je nach Lage der Mitgliedsstaaten abweichende geopolitische Interessen.           

 

Nehmen wir die aktuelle Situation in Venuzuela: Da haben fast alle europäischen Staaten – so könnte man denken - die gleichen Interessen. Und trotzdem schaffen es die 28 Staaten nicht, eine einheitliche Erklärung abzugeben. Sondern es gibt einzelne Staaten, die sich dagegen sperren. Und hier glaube ich sollte man voranschreiten und überlegen. Wie könnte man dieses Instrument effektiver gestalten, dass bei solchen Krisen die Eu wirklich schnell, und zeitnah reagiert und das mit einer einheitlichen Stimme.

 

 

 

Sendeminute 19,5         

 

Moderatorin Mirjam Kottmann: Denken wir in der EU heute zu kleinteilig?   

 

Luxemburgs Auißenminister Jean Asselborn hat seine Meinung dazu.        

 

 

 

Jean Asselborn (2018): Wenn sich da so weiter entwickelt, dann werden wir außenpolitisch zum Zwerg. Ich weiß dass das schwer wird, aber wir müssen überlegen, wir in der der Außenpolitik zu Mehrheitsentscheidungen kommen.     

 

 

 

Moderatorin Mirjam Kottmann: Ja Asselborn […] war ja früher auch ganz anderer  Meinung. Was hat ihn [zu diesem Meinungswechsel] bewogen?

 

 

 

Dr. Andreas Kalina: Ich glaube, das war insgesamt die Konstellation auf der internationalen, auf der weltpolitischen Bühne, wo Europa, wenn es nicht einstimmig vernehmbar auftritt, einfach droht, zermahlen zu werden. Zermahlen zu werden, zwischen einer protektionistischen USA auf der einen Seite und chinesischen Ambitionen auf der anderen Seite. Und was noch dazukommt, ist die Unsicherheit im Nahen Osten. Und das erfordert tatsächlich eine vernehmbare Stimme und da stellt sich tatsächlich die Frage: Wie schaffen wir das, punktgenau und schnell aufzutreten. Und das ist dann tatsächlich möglich, wenn dann einzelne Staaten, die sich nicht fügen wollen, überstimmt werden … und daher spricht sich Asselborn für die Mehrheitsentscheidung aus.     

 

 

 

Sendeminute 20,5         

 

Moderatorin Mirjam Kottmann: Ja, ein Grund ist das schon für die Mehrheitsentscheidung  was gibt es denn noch für Gründe dafür? 

 


Dr. Andreas Kalina: Ja eigentlich halte ich schon für den zentralen  Grund für die Mehrheitsentscheidung, dass Blockadepotential aufzulösen, weil die blockierenden Staaten werden dann auch die eigene Position reflektieren und sich tatsächlich einer europäischen Position anschließen, was wiederum nach innen in die Bevölkerung in eine größere Einheitlichkeit verdeutlichen würde. Es ist auch die Schnelligkeit, weil, wenn es zu lange dauern würde, bis man zu einer einheitlichen europäischen Meinung kommt, ist eigentlich der Zug abgefahren und es sind andere  politische Akteure schon vorne. Was auch mitschwingt ist der Kompromisscharakter und ich glaube, den kann man (auch in der Außenpolitik) stärker verfolgen. Ich möchte aber noch einen Punkt hinzufügen: Es ist ja immer deutlich schwerer in zentralen Politikfeldern wie in der Außenpolitik Mehrheitsentscheidungen anzusetzen, weil (die Gefahr besteht, dass) Staaten überstimmt werden.

 

Ich hätte eine Idee: Man könnte beispielsweise wie beim Bundesverfassungsgericht der Minderheitsposition den Raum gewähren, dass sie (ein Sondervotum oder) eine Sonderposition verkündet. Das heißt, letztendlich würde eine Mehrheit entscheiden, es gebe eine Erklärung der Europäischen Union, die einheitlich wäre, aber die Staaten, die überstimmt worden sind, hätten die Gelegenheit zu sagen, was ihre originelle Position ist.   

 

    

 

Moderatorin Mirjam Kottmann: Könnte es in der Außenpolitik einen Kompromiss geben in Form eines Europäischen Sicherheitsrates. Das Kanzlerin Merkel und Außenminister Maas haben dies ja auch schon vorgeschlagen.         

 

      

 

Dr. Andreas Kalina: Ich sehe hier nicht unbedingt den Handlungsbedarf in Richtung eines Europäischen Sicherheitsrates. Wir haben auf der internationalen Bühne schon etablierte Strukturen, die so funktionieren: Die UNO mit dem Sicherheitsrat. Hier könnte man überlegen, inwieweit etwa der französische Sitz zu einem europäischen Sitz umgestaltet werden könnte, damit da Europa vertreten ist. Auf der verteidigungspolitischen Bühne haben wir die NATO, die auch – trotz Trump – ganz gut funktioniert. Ich glaube, in Europa kommt es wirklich darauf an, die nationalen Verteidigungspolitiken stärker zu harmonisieren.    

 

Dass heißt, da wo man schon aktiv ist, die Hürden und Hindernisse ab zubauen, damit man effektiver zusammenarbeiten kann.

 

 

 

Moderatorin Mirjam Kottmann: Was spricht denn jetzt auf der anderen Seite für dieses Einstimmigkeitsprinzip, gerade bei der Außen- und Sicherheitspolitik?             

 

 

 

Dr. Andreas Kalina: Das ist gerade .. der Effekt: Wenn es mit Mehrheit entschieden wird, gint es immer einen Staat, der überstimmt worden ist und dann stellt sich die Frage, inwieweit schaffe ich eine Akzeptanz dafür, dass ich über stimmt worden bin als Staat. Und dafür brauchen sie eine gewisse Loyalität gegenüber der Europäischen Union. Sie brauchen eine Identität. Das heißt, sie sagen: Diese Mal bin ich überstimmt worden, aber ich fühle mich dennoch als Teil des Ganzen.          

 

Gerade bei der Außen- und Sicherheitspolitik kann es sein, dass das „Überstimmt-Werden“ ein hohe Frustration erweckt, dass man die Brüche gegenüber Brüssel sogar noch verstärkt und das man vielleicht aus einer populistischen Gesinnung heraus diese Brüche noch verschärft, um in der Bevölkerung einen noch größeren Rückhalt zu bekommen.         

 

Dieser populistische Reflex, den wir in Nord- und Südeuropa, genauso wie im Westen und im Osten immer stärker beobachten können.  Und die Abkehr von der Einstimmigkeit hätte hier das Potential einer zusätzlichen Sprengkraft.

 

 

 

Sendeminute 24,5         

 

Moderatorin Mirjam Kottmann: Ja, fragt man die Deutschen, so scheint klar zu sein, dass das Einstimmigkeitsprinzip in der EU keine große Zukunft hat.

 

 

 

Sprecherin: 36% der Deutschen sagen, dass wichtige Entscheidungen in der EU einstimmig getroffen werden sollten. 58%  sagen: Eine deutliche Mehrheit wäre besser.  6 % haben keine Meinung dazu.  

 

 

 

Moderatorin Mirjam Kottmann: Ja, würde die Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip zum mehr Akzeptanz innerhalb der EU beitragen?

 

 

 

Dr. Andreas Kalina: Dich bin mir hier nicht so ganz sicher, weil wir [mit der Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip] auf der einen Seite eine effektivere europäische Politik sehen (ohne Politikblockaden). Auf der anderen Seite sehe ich diese Umfragezahlen etwas differenzierter:

 

Weil die Menschen sind hier abstrakt gefragt worden. Wenn an die Menschen an ein Politikfeld bindet und verdeutlicht, dass man selbst auch als Land in diesem Politikfeld überstimmt werden könnte, […] dann sind die Zahlen auch etwas anders.            

 

Abstrakt gesehen finden sie in fast allen europäischen Staaten die Aussprache für Mehrheitsentscheidungen, wenn es aber um konkrete Politikfelder geht, dann sieht es ganz anders aus.

 

 

 

Moderatorin Mirjam Kottmann: Ja, würde die Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip zum mehr Akzeptanz innerhalb der EU beitragen?

 

 

 

Moderatorin Mirjam Kottmann: Ja, In Europa erstarkt ja zur Zeit der Populismus in vielen Ländern, Blockaden drohen. Ist das nicht ein Argument für Mehrheitsentscheidungen?

 

Dr. Andreas Kalina: Sowohl als auch. Es ist auf der einen Seite ein Argument für mehr Mehrheitsentscheidungen, weil dann schafft man es, diese [möglicherweise europaskeptischen, populistisch regierten] blockierenden Staaten einfach außen vor zu lassen und zu einer politischen Entscheidung zu kommen, die Probleme bearbeiten kann. .   

 

Auf der anderen Seite: Wenn man gerade in der jetzigen Struktur, in der es verstärkte Spaltungen zwischen europäischen Staaten gibt und verstärkte Spaltungen innerhalb von einzelnen Gesellschaften das Mehrheitsinstrument einfügen, dann kann das auch nach hinten los gehen, das diese Spaltungen noch deutlich größer werden.

 

Ich sehe hier auf der einen Seite die Chance Entscheidungen zu beschleunigen, aber auf der Anderen Seite auch die Tendenz zu einer Exit-Union, einer Exit-Union insofern, dass es Verweigerer gibt, Staaten die nicht mehr partizipieren wollen … und das es vielleicht zu weiteren Referenden wie in Großbritannien kommen könnte. .

 

 

 

Moderatorin Mirjam Kottmann: Ja, Der Vertag von Lissabon liegt ja jetzt gut 10 Jahre zurück. Wäre jetzt nicht wieder Zeit für Reformen.

 

 

 

Dr. Andreas Kalina: Der Vertag von Lissabon liegt nicht so lange zurück, dass man sich nicht erinnern würde, wie er entstanden ist.  

 

Es ist zuvor der Verfassungsentwurf gescheitert und auch beim Vertag von Lissabon hat man z.B. Irland zweimal abstimmen lassen und Tschechien hat auch zwei Jahre lang blockiert. Und wenn man sich das vor Augen führt wird deutlich, das gerade in der jetzigen Situation, die noch aufgeheizter ist, die populistischer ist, der Einigungsspielraum für einen neuen Vertrag nicht gegeben ist.  ,   

 

Die andere Seite ist, dass der Vertrag von Lissabon eigentlich sehr gut und robust ist, und er lässt auch den Spielraum für mehr Mehrheitsentscheidungen. In vielen Politikfeldern, in denen Mehrheitsentscheidungen möglich wären (z. B. in der Asylpolitik) wird faktisch nach dem Prinzip der Einstimmigkeit entschieden.