Sozistunde 12922 - EU - Die Macht und die Geschichte des EU-Parlaments




Mitschrift von Dalil Ali vom 21.10.2019



Alpha-Demokratie: Das Europäische Parlament  | 01.05.2019

Online bis 30.04.2024

https://www.br.de/mediathek/video/alpha-demokratie-01052019-das-europaeische-parlament-av:5c926a3113b5f60013e468ad

Moderatorin Mirjam Kottmann:  Europa wählt. In gut drei Wochen wird über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments abgestimmt. Wie arbeitet das Europa-Parlament eigentlich? Worüber entscheidet es? Das Europäische Parlament ist unser Thema jetzt bei Alpha-Demokratie. […] Ende Mai stimmen etwa 400 Millionen Bürger in allen EU-Staaten ab. Mehr als 150 Parteien stellen sich zur Wahl. Sie wollen alle ins Europäische Parlament. Darüber möchte ich jetzt sprechen Berthold Rittberger, er ist Professor für Politikwissenschaft am Geschwister-Scholl-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Der Wahlkampf zur Europawahl ist wenige Wochen vor den Wahlen kaum wahrnehmbar. Dabei ist die Wahl doch so wichtig. Woran liegt denn das?

 

Prof. Berthold Rittberger: Die Wahl ist in der Tat sehr wichtig, nur ist es bei Europawahlen in der Regel so, dass viele Bürger sie als Nebenwahlen wahrnehmen, weil es Wahlen sind, von denen man nicht genau weiß: Kann man eine Regierung wählen? – Man kann eigentlich keine wählen, es steht ja keine zur Wahl. Aber man kann auch keine Regierung abwählen, ihr also einen Denkzettel verpassen. Deshalb gehen die Leute bei Europawahlen tendenziell weniger häufig zur Wahl als z. B. bei nationalen Parlamentswahlen wie der Bundestagswahl.                 

Moderatorin Mirjam Kottmann:  Die Wahlbeteiligung ist in der Regel immer so um die 50 %

Prof. Berthold Rittberger: Sogar niedriger. Bei den letzten Europawahlen war sie bei knapp über 40%. Das unterscheidet sich natürlich von Mitgliedsstaat zu Mitgliedsstaat. In Ländern mit Wahlpflicht wie Luxemburg oder Zypern] ist sie tendenziell höher als in Ländern ohne Wahlpflicht. <= Sendeminute 2

DIE GESCHICHTE DES EU-PARLAMENTS

Sendeminute 4,5=> Moderatorin Mirjam Kottmann:  Die lange Geschichte des Europäischen Parlaments begann 1954. Im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (kurz: EGKS), einer der Vorgängerinstitutionen der EU. Man hat dann damals eine Parlamentarische Versammlung (die „Gemeinsame Versammlung der EGKS“)

 gegründet. Warum hat man das denn damals eigentlich gemacht? 

Prof. Berthold Rittberger: Das hatte damals damit zu tun, dass man mit der EGKS eine zweite Institution gegründet hat, nämlich die „Hohe Behörde“ der EGKS, die Vorläuferinstitution der Europäischen Kommission. Und die Europäische Kommission hatte bestimmte … Rechtsetzungsbefugnisse, auch exekutive Befugnisse und da heben sich die Staats- und Regierungschefs zu der Zeit gedacht: Wenn wir eine Exekutive für Europa bauen, dann brauchen wir auch ein parlamentarisches Kontrollorgan und so ist Gemeinsame Versammlung der EGKS ins Leben gerufen worden. 

Moderatorin Mirjam Kottmann:  

Und welche Befugnisse hatten die damals

Prof. Berthold Rittberger: Damals wirklich nur die Befugnis, diese Hohe Behörde, also die Vorläuferinstitution der Europäischen Kommission zu kontrollieren. Sie könnten Sie gegebenenfalls sogar entlassen, wenn sie nicht das getan hätte, was die übergroße Mehrheit der Parlamentarier damals gewollt hätte. 

Moderatorin Mirjam Kottmann: 1957 wurde dann der Name der „Gemeinsamen Versammlung“ im Zuge der Römischen Verträge in „Europäisches Parlament“ unbenannt. Hatte diese Versammlung tatsächlich schon Merkmale eines Parlaments?  

Prof. Berthold Rittberger: Also die Gemeinsame Versammlung auf der einen Seite weniger, weil sie wirklich nur Kontrollbefugnisse hatte und bei der Rechtsetzung (Gesetzgebung) noch nicht einmal ein richtiges Mitspracherecht, sondern nur angehört wurde. Wo sie allerdings schon Merkmale eines Parlaments hatte und dann später den Römer Verträgen um so mehr, war, dass sich die Parlamentarier sich im Parlament schon nach Fraktionen zusammengesetzt haben und nicht etwa nach nationalen Gruppen, also wir das aus nationalen Parlamenten auch kennt, 

Moderatorin Mirjam Kottmann: Wie würden sie denn das Image des Europäischen Parlaments beschreiben damals, das war ja nicht das Beste

Prof. Berthold Rittberger: Ja, ob es das beste [Image] war sei einmal dahingestellt, auf jeden Fall galt es als nicht sonderlich einflussreich. Denn auch nach den Römischen Verträgen könnte das Europäische Parlament bei der Rechtssetzung angehört werden, es könnte seine Meinung abgeben, aber es könnte keinen substanziellen Einfluss nehmen,

[Anmerkung: „Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa“ war ein häufig verwendeter Spottspruch der 1970er Jahre, der die damalige Bedeutungslosigkeit des EU_Parlamentsw untermalen sollte. Nach Meinung vieler Kommentatoren lag die Hauptfunktion des Europäischen Parlaments darin, Altpolitikern einen Versorgungsposten zu verschaffen, wo sie, keinen Schaden mehr anrichten konnten vgl.: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_geflügelter_Worte/H#Hast_du_einen_Opa,_schick_ihn_nach_Europa

Das hat dann eine Weile gedauert, nämlich … 30 Jahre, bis zur Einheitlichen Europäischen Akte Ende der 1980er Jahre, als das Europäische Parlament zum ersten Mal richtig Mitspracherechte bekam, als es um die Verabschiedung des Binnenmarkt-Programms ging 

 

Moderatorin Mirjam Kottmann: Welche Schritte gab es dann noch auf dem Weg zur Bedeutungssteigerung des Europäischen Parlaments? 

 

Prof. Berthold Rittberger: Zum einen sehr wichtig ist die erste Direktwahl des Europäischen Parlaments 1979; als das erste Mal Abgeordnete direkt gewählt wurden und nicht Abgesandte ihrer nationalen Parlamente waren. Und vorher, Mitte der 1970er Jahre bekam das Europäische Parlament auch Befugnisse über die Verabschiedung des gemeinsamen EU-Haushalts, was ein ganz wichtiges Recht ist, weil es dem Parlament ermöglicht hat, selbst ohne Rechtsetzungsbefugnis „durch die Brieftasche“ sozusagen Einfluss auf die Politikgestaltung zu nehmen.

 

[Die Beteiligung am Haushalt bezog sich allerdings nicht im Bereich der sogenannten „obligatorischen Ausgaben“, d. h. vor allem der Agrarausgaben, die zu jener Zeit rund 90 % des Gesamtetats ausmachten.]

 

Moderatorin Mirjam Kottmann: Welche Bedeutung würden sie sagen hat das Europäische Parlament heute? 

Prof. Berthold Rittberger: Die Bedeutung des Europäischen Parlaments kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Denn heutzutage ist das Europäische Parlament in fast allen Bereichen, in denen die Europäische Union Entscheidungen trifft, gleichberechtigter Mitgesetzgeber mit dem Rat, also mit den Regierungsvertretern der Mitgliedsstaaten. Das Parlament ist enorm wichtig, wenn es darum geht, die Kommission einzusetzen. Die Wahl des Kommissionspräsidenten, die wir ja bald erleben werden, ist ganz eng mit der Wahl zum Europäischen Parlament auch verbunden.



Einen Einblick in die Aufgaben des "EU-Parlaments" gibt 

Animation des Tagesschau zum Vertrag von Lissabon
http://www.tagesschau.de/static/flash/vertrag-von-lissabon/

Das Europäische Parlament ist die direkte Vertretung der EU-Bürger – vergleichbar mit dem Deutschen Bundestag. Die Abgeordneten werden von den Bürgern der Europäischen Union alle fünf Jahre direkt gewählt. 2013 umfasste das Parlament 736 Abgeordnete, 99 von ihnen kamen aus Deutschland. Seit den Europawahlen 2014 haben sich die Zahlen verändert: Das Parlament hat (Stand: Dezember 2014) 751 Abgeordnete, 96 von ihnen kommen aus Deutschland. 

Sie sind nicht nach Ländern zusammengefasst, sondern bilden je nach politischer Ausrichtung länderübergreifende Fraktionen, z.B. die Fraktion der „Europäischen Volkspartei“ (EVP, Christdemokraten) oder die Sozialdemokraten.  

Das Parlament muss der Ernennung der Kommissare (die – vereinfacht gesagt – von den Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten vorgeschlagen werden) zustimmen

Das Parlament kann den Rücktritt der Kommissare durch ein Misstrauensvotum erzwingen.

Der Vertrag von Lissabon sieht vor, dass das Parlament auch künftig den Kommissionspräsidenten (auf Vorschlag des Europäischen Rates) wählt. Neu ist, das der Rat bei seinem Vorschlag das Ergebnis der Europawahl berücksichtigen muss.  

Das Parlament ist gemeinsam mit dem Ministerrat auch für die Gesetzgebung zuständig. Es besitzt aber weiterhin kein Initiativrecht, d. h. es darf keine eigenen Gesetze vorlegen, sondern lediglich zustimmen oder ablehnen.    

Sind Parlament und Ministerrat uneinig, so kommt es zu einem Vermittlungsverfahren.

Zukünftig aber sollen die Rechte der Abgeordneten ausgeweitet werden. Sie müssen dann über fast alle Gesetze mitentscheiden, die in der EU gemacht werden.

Bei Themengebieten wie der Außen- und Sicherheitspolitik wird das Parlament weiterhin nur angehört.

Vor dem Vertrag von Lissabon hatte das Parlament keinen Einfluss auf die so genannten obligatorischen Ausgaben der EU, z. B. auf den großen Posten des Agrarhaushaltes. Der Vertrag von Lissabon änderte das: Das Parlament muss über alle Ausgaben der EU mitentscheiden.