Sozistunde 12925 - Was steckt hinter dem Streit um den Spitzenkandidatenprozess?



Unterrichtsmitschrift von Björ Oldach vom 11.11.2019


 

Der Europäische Rat kürt den Kommisionspräsidenten – Karikatur von Oliver Schopf (2019?) 

http://www.oliverschopf.com/html/d_archiv/archivpolkar/archiv_europa/eu/eu_wahl_kurfuersten.html

 


Karikatur von Kostas Koufogiorgos vom 4. Juli 19
Juncker und von der Leyen
http://www.koufogiorgos.de/bilder/040719_eufarbe_small.jpg


Kurzinterpretation:
Der als Spitzenkandidat des EU-Parlaments gewählte alte Kommisionspräsident Juncker hält noch die (durch den Streit um seine Nachfolge) beschädigte EU- Fahne hoch und übergibt sie an die Wunschkandidatin des Europäischen Rates, Ursula von der Leyen!



Vertrag von Lissabon, Artikel 9d (7)
"Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament. Das Europäische Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder."


ab Sendebeginn: 

Tilman Seiler (Moderator): Das heftige Gerangel um den Top-Job des EU Kommissionschefs – es  zeigt, wie machtvoll diese Position ist. Was der Chef und seine Kommissare ist alles bewegen können, das erläutern wir jetzt in Alpha Demokratie. Schön dass sie dabei sind.
Wer wird Präsident der Europäischen Kommission und welche Länder erhalten welche Ressorts? Diese Fragen stellen sich alle fünf Jahre wieder.
Der Wahl im Europaparlament gehen meist harte Verhandlungen voraus, denn der Präsident und seine Kommission, die haben eine große Machtfülle. Nun gibt es eine Premiere: Mit Ursula von der Leyen ist die erste Frau an die Spitze der Kommission gewählt worden.
Zu dem Thema haben wir eingeladen: Den Politikwissenschaftler, Philosophen und Europa-Experten Professor Daniel Göler der an der Universität Passau lehrt. […] Ja, die erste Frau an der Spitze der Kommission, da kann man schon von einem historischen Moment sprechen.
Prof. Daniel Göler:  Das ist mit Sicherheit ein historischer Moment, vor allem, weil es so ja nicht erwartet worden war im Vorfeld. Wenn wir uns die Europawahlen und den Wahlkampf anschauen, da waren zunächst ja noch ganz andere Kandidaten im Gespräch gewesen.


Tilman Seiler (Moderator): Ja unsere das hier sind nochmals die Bilder von diesen denkwürdigen Abend in Straßburg. Ursula von der Leyen hat es also geschafft: Sie ist zur ersten Kommissions-Chefin gewählt worden und sie genießt erleichtert den Applaus des Parlaments. Ja, … was bedeutet denn dieses erwartet knappe Ergebnis für den Start von [Ursula] von der Leyen in ihre Amtszeit?
Prof. Daniel Göler:  Wichtig ist, das der Start gelungen ist. Das war vorher nicht absehbar. Es gab ja auch viele kritische Stimmen, gerade weil die Nominierung von Frau von der Leyen  durch den Europäischen Rat ja von Teilen des Parlamentes ja auch als Angriff auf das Parlament wahrgenommen worden ist.
Es gab ja diesen genannten Spitzenkandidatenprozess d.h. die großen europäischen Parteifamilien haben ihre Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten nominiert. Hinter diesem Spitzenkandidatenprozess steht eigentlich die viel wichtigere Frage: Wer hat den entscheidenden Einfluss auf die Bestimmung dieser wichtigen zentralen Personalie in der EU? Ist es das Parlament oder ist es Europäische Rat? Und indem der Europäische Rat sich über die Spitzenkandidaten hinweg gesetzt hat , hat er natürlich hier den Anspruch des Europäischen Parlaments hier ein entscheidendes Wort mitzureden, ein Stück weit übergangen. Von daher gab es sehr viele skeptische Stimmen und man muss sagen, es ist für Frau von der Leyen zunächst mal gut, das sie überhaupt gewählt worden ist. Für sie wird es jetzt vor allem darauf ankommen, das Parlament mitzunehmen und da hat sie ja auch verschiedene Angebote in den letzten Tagen an das Parlament auch gemacht.


Sendeminute 3
Tilman Seiler (Moderator): Der gesamte Wahlprozess, der hat ja so seine Tücken, wie sie eben schon angedeutet haben. Was könnte man da denn nun verbessern?
 
Prof. Daniel Göler:  Man muss vielleicht in der Entstehungsgeschichte zwei Schritte zurück gehen: Die jetzige Regelung ist … unklar, weil bei ihrer Erarbeitung im Europäischen Verfassungskonvent, dessen Formulierung dann im Vertrag von Lissabon übernommen worden sind, es eben genau die zwei Fraktionen gab, die wir heute auch sehen: Diejenigen, die nämlich weiterhin wie es in der Vergangenheit war, das entscheidende Wort bei der Nominierung des Kommissionspräsidenten bei den Staats- und Regierungschefs haben wollten und diejenigen, die eher einen Schritt in Richtung Parlamentarisierung gehen wollten und das entscheidende Wort dem Europäischen Parlament geben wollten. Und man hat sich dann auf einen Kompromiss geeinigt, der eigentlich kein Kompromiss in der Sache sondern ein Formelkompromiss war: bei dem man gesagt hat, Europäische Rat schlägt dem Parlament einen Kandidaten vor, muss dabei aber die Ergebnisse der Europawahl berücksichtigen und das Europäische Parlament wählt.

Also man hat es klassischerweise offen gelassen. Diejenigen, die das Parlament stärken wollten, sahen in diesem Formelkompromiss eine gute Ausgangsbasis, um in Zukunft die Rechte des Europäischen Parlamentes ausbauen zu können. Diejenigen, die dem Europaparlament diese Rechte nicht geben wollten  oder weiterhin am alten Modell der Prärogative der Staats- und Regierungschefs festhalten wollen, hielten das Modell für geeignet, ihre Rechte auch in Zukunft durchzusetzen.

Was wir jetzt seit eigentlich über zehn Jahren erleben ist ein institutioneller Machtkampf zwischen  Europäischen Rat und Parlament: Bei der letzten Wahl des Kommissionspräsidenten vor fünf Jahren konnte  das Parlament sich durchsetzen da gab es die These, dass sei ein erster Schritt in Richtung einer Parlamentarisierung des politischen Systems der Europäischen Union. Jetzt sehen wir einen Schritt zurück in die andere Richtung.  Die entscheidende Frage wird aber sein, wie das  in Zukunft weitergehen wird - also dieser Streit ist glaube ich noch nicht final entschieden zwischen diesen beiden Institutionen.


Sendeminute 5
Tilman Seiler (Moderator):
Ja und Ursula von der Leyen hat natürlich im Parlament noch mal für dich geworben, wie wir wissen erfolgreich. […]
Diese Rede, verlief die so nach dem Motto möglichst: Möglichst vielen möglichst viel  versprechen oder war es schon der Auftritt einer überzeugten Europäerin, die auch gewillt durchaus gewillt ist, anzuecken, um für die Position und die Werte Europas zu kämpfen?
Prof. Daniel Göler:  Ich würde sagen beides. Natürlich hat sie in ihrer Rede bewusst diejenigen mitzunehmen versucht, die sich im Vorfeld skeptisch geäußert haben, insbesondere Sozialdemokraten, Liberalen und die Grünen. Aber ich glaube, man kann bei Ursula von der Leyen schon auch einen pro-europäischen Geist und eine Überzeugung feststellen, für die europäische Sache zu kämpfen. Sie hat sich auch bekannt zu den europäischen Werten, sie hat sich auch dazu bekannt, auch die Einhaltung des Rechtstaatlichkeitsprinzips zu achten, was ihr mit Sicherheit bei bestimmten Mitgliedern des europäischen Parlaments nicht unbedingt Sympathie entgegengebracht hat.
Aber sie war in einer Situation, erstmal eine Mehrheit für sich gewinnen zu müssen und musste deshalb natürlich mit der Rede auch versuchen, verschiedenste Gruppierungen zu bedienen. Und wenn man sich die einzelnen Themen anschauen, sehen wir schon das da  schon so ein bisschen für jeden ein kleines Häppchen war, mit dem er sich identifizieren konnte.