Sozistunde 12173 - Zwangsverschleppt und mitgenommen - ein Projekt am SEG Neuerburg aus dem Schuljahr 2002/2003


Sk 11170 Deutschland und die Migranten

 

PDF: https://drive.google.com/open?id=1hXaWGCuYzGJ_2vcwNl7ZRL3MErKqK3eD

 

Sk 11170 Mitschriften - Deutschland und die Migranten

 

PDF: https://drive.google.com/open?id=1G2GwQ2Uc-X4HVkD2AAaCswEDhY-nKERX


Zwangsverschleppt und Mitgenommen

Mehr als zwei Drittel der Teilnehmer des Grundkurses 11 gk1 Gemeinschaftskunde 2002/2003 am Staatlichen Eifel-Gymnasium Neuerburg stammte aus dem Gebiet der ehemaligen UdSSR. So konnten wir gute und authentische Informationen von Personen, die eigene Erfahrungen auf dem Gebiet „Migration” gemacht haben, sammeln.

Am Anfang unserer Arbeit stand die Beschäftigung mit der Zwangsdeportation der Russlanddeutschen unter Stalin im Zweiten Weltkrieg. Beim Übersetzen des russisch Gesprochenen in die deutsche Schriftsprache und beim Übertragen der alten (für unsere Ohren recht ungewohnten) Dialekte ins Hochdeutsche ist Einiges verloren gegangen. Die Befragten, die die Zwangsdeportationen am eigenen Leibe erfahren mussten, sagten, dass sich vieles von dem, was sie erlebt haben, kaum in Worten sagen lässt. Obwohl die Ereignisse von denen berichtet wird, schon mehr als 60 Jahre zurück liegen, flossen häufig Tränen. Die Namen unserer Gesprächspartner haben wir geändert. Sie sprechen für viele andere und werden sich in den Berichten über ihr eigenes Schicksal oder das ihrer Familien wieder erkennen.

Die Arbeit war eine Gemeinschaftsarbeit aller Schüler und Schülerinnen des Kurses und ist in vielen, ständig wechselnden Teilgruppen entstanden. Bei der Übersetzungsarbeit erweis sich die Zusammenarbeit zwischen Einheimischen und Aussiedlern als hilfreich, das Protokollieren der aufgezeichneten Gespräche wäre ohne die Nutzung des schuleigenen Computerraumes kaum möglich gewesen.


Frau Lila S. *: „Unsere Mitschüler riefen uns „Faschisten“ und „Fritzen hinterher.“

 

Zur Person

 

Ich heiße Lilia 5. (*Name geändert) und mein Geburtsname ist R. Ich bin am 13. Februar 1935 in der Stadt Konstaninowka in der Ukraine geboren. Ich lebe nun seit 3 Jahren Deutschland, das ja auch einmal unsere Heimat war.

 

Die Zwangsdeportation

 

Im Jahre 1941 wurden wir, [die Wolgadeutschen], nach Kasachstan ausgesiedelt. Sie nahmen uns und setzten uns in einen Zug. Hier gab es keine Sitze, es war nichts darin, gerade so, als würde  man Vieh darin transportieren. Platz gab es nur ganz wenig, wir konnten uns nicht hinlegen und mussten im Sitzen schlafen, das war schrecklich. [...] Während des Transporte gab es einen Alarm - es war (im) Krieg: Man hielt unseren Zug an und hat alles zugeschlagen, die Türen, so das wir nichts sehen sollten. Direkt neben uns aber war ein Zug mit Juden, und den haben sie zerstört. Als die Fenster unseres Zuges wieder geöffnet wurde,  dass wir Licht bekamen, sahen wir, wie neben uns alles verbrannt war, die Leute, alles verbrannt. Das habe ich gesehen, ich war damals 6 Jahre alt.

 

Mein Vater war nicht bei uns, den hatten Sie ins Arbeitslager, in die „Trujdarmee“ gesteckt. Daher  war meine Mutter mit uns vier Kindern alleine, das kleinste Kind war im Jahre 1941 geboren und noch ein Baby. Einmal haben sie uns auf dem Weg gestoppt und man sagte: „Nun könnt ihr gehen und etwas Tee für die Kinder kochen“. So sind wir Kinder weiter fort gegangen um etwas Heißes zu trinken. Mutter aber ist geblieben, so dass wir uns aus den Augen verloren. Nach einiger Zeit - ich weiß nicht mehr, wie viel Zeit vorbei ging - kam Mutter m einem anderen Zug, so dass wir vier Kinder wieder mit ihr zusammen waren.

 

Die ersten Jahre in Kasachstan — Armut

 

Als sie uns von der Ukraine vertrieben, war es dort warm, - in der Ukraine ist es warm - als wir aber nach Kasachstan kamen, war es klar, es lag Schnee und wir hatten nichts Warmes anzuziehen. Ein Mann, ein Kasache, aber half uns: Er gab uns eine Decke, so dass wir uns zudecken konnten. Wir wurden in der Baracke einer alten Schule untergebracht, in der nicht geheizt wurde, so dass wir froren. Wir hatten nicht zu essen, und die Leute in Kasachstan konnten uns auch nichts geben, die hatten ja auch nichts gehabt.

 

Unzählige Leute sind [in den letzten Kriegsjahren] erfroren und verhungert, aber unser Mutter schaffte es dennoch, uns durchzubringen, ich weiß auch nicht wie sie da hinbekommen hat. Meine älteste Schwester hat gebettelt. In Kasachstan, dort, wo wir waren, war es sehr kalt. So wickelten wir uns Lumpen um die Füße und gingen betteln. Die Leute haben uns Kartoffelschalen gegeben und die haben wir gegessen. Auch ganz schlechte Kleie haben wir gegessen, wir hatten doch weiter nichts. Bis zu drei Tagen gab es nichts anderes zu essen als abgekochtes Wasser, das noch nicht mal Salz enthielt. ich wurde ganz schwach, habe gelegen und konnte nicht mehr aufstehen. Wir wurden in einer Stube untergebracht. Mutter bracht Stroh, warf es auf die Erde und dort haben wir geschlafen. So schwer haben wir gelebt, im Winter wie im Sommer. Wir fuhren weiter, man brachte uns in ein Dorf, wo meine Mutter in einer Milchfabrik gearbeitet hat. Den Rahm der Milch durften wir abschöpfen, um davon zu essen. Insgesamt ist es uns in diesem Dorf schon ein wenig besser gegangen.

 

Unterdrückung der deutschen Bevölkerung

 

Nun, so lebten wir in Kasachstan bis 1993, dann sind wir nach Russland umgezogen. Unter Stalin standen wir Deutschen unter der Kommandantur Aufsicht, das heißt, man durfte ohne Erlaubnis nirgendwo hinfahren. Erst 1956 wurden wir von der Kommandantur befreit, erst dann konnten wir in andere Dörfer fahren. Wir Deutschen wurden nicht als Mensche geachtet; und durften (auch später) nicht in der Armee dienen. Die deutsche Sprache war uns in Russland und Kasachstan verboten. Ich konnte sehr gut kasachisch reden.

 

In der Schule durfte nur russisch gesprochen werden, wir durften kein Deutsch sprechen. Die russischen Kinder, unsere Mitschüler, riefen uns „Faschisten“ und „Fritzen“ hinterher. Sicherlich gab es auch russische Freunde, es gibt — wie überall - auch gute Leute.

 

Erst mit elf Jahren bin ich zur Schule gegangen. Vorher gab es nicht Richtiges anzuziehen. Mein Vater, der im Arbeitsdienst, in der „Trujdarmee“ war, bekam alte Kleidung geschenkt, die er uns raus nach Hause schickte. Mir hat er Schuhe geschickt, damit ich endlich zu Schule gehen konnte, mit elf Jahren! Ich habe nur sieben Schulklassen beendet — und weite eine Ausbildung gemacht. Arbeiten mussten wir von klein auf: Wir passten auf die Kälber auf, mussten sie tränken, die Kühe melken, bei der Heuernte helfen - solche Arbeiten mussten wir verrichten. Es war sehr schwer. Trotz aller Unterdrückung haben wir versucht, unsere deutschen Traditionen weiter behalten, oft im Geheimen, wir haben alles so gemacht, wie es früher (vor 1941) in der Ukraine an üblich war.


Video: Zwangsverschleppt - Bericht von Katharina - SEG Neuerburg 2004


Frau Katharina B.*: „Man hat uns mit Steinen beworfen und geschlagen und  Faschisten“ und „Hitler-Anhänger“ genannt.“

 

Zur Person

 

Ich heiße Katharina B. (*Name geändert) und bin im Gebiet Saratow im Dorf A1exandrowka  geboren und wohne jetzt seit viereinhalb Jahren in Deutschland, in der Stadt K. Am 13 September 1941 wurden wir [Wolgdeutsche] aus der Powolgje [der Wolgarepublik] vertrieben. [Damals war ich fünf Jahre alt.]

 

Hungerjahre nach der Zwangvertreibung

 

Danach war das Leben sehr schwer, da nichts geregelt war, so lange wir in Russland waren. Dies änderte sich erst, bis ich nach Deutschland ausreisen konnte. Das Leben war so beschwerlich, das man es gar nicht erklären und erzählen kann. Es gab nichts zu Essen und kaum etwas zum Anzuziehen und deshalb hatten wir auch keine Möglichkeit in die Schule zu gehen, um etwas zu lernen. Als wir etwas Ordentliche anzuziehen hatten, konnten wir nicht in die Schule gehen.

 

Schule, Trujdarmee und immer wieder Hunger

 

Man hat uns keinen Weg laufen lassen, nicht hier hinaus und nicht dort hinaus. Man hat uns mit Steinen beworfen und geschlagen und uns „Faschisten“ und „Hitler-Anhänger“ genannt. Meinen Vater steckten sie in die so genannte „Trujdarmee“ (den Arbeitsdienst). Meine Mutter aber blieb mit acht Kindern alleine. Das jüngste Kind war neun Monate alt. Meine Mutter musste arbeiten gehen, so dass niemand [bei uns Kindern] daheim war. Das war sehr schwer zumal wir kaum etwas zum Essen und zum Trinken hatten.

 

Immer wieder musste man sich bei einem Schreiber, einem Regierungsbeamten melden, und mein ältester Bruder, der damals elf Jahre alt war, sollte ein Formular unterschreiben. Er aber wusste gar nicht, was er da unterschreiben sollte und da hat er es nicht getan. Daraufhin hat man ihn in die Ecke gestellt, ein Beil geholt und gedroht, ihm den Kopf abzuschlagen. Wir anderen Kinder standen hilflos dabei. Als sie meinen Vater aus der Trujdarmee entließen, hatte er viele Wunden und war am ganzen Körper geschwollen. Er war so matt, dass er uns kaum mehr erkannte. Wir holten Kartoffeln heraus und gaben ihm Kartoffeln mit den Schalen zu essen. Da ging es ihm ein wenig besser ist wieder auf die Beine gekommen und konnte arbeiten gehen. Wir waren elf Kinder bei meinem Vater und bei meiner Mutter. Schon vor der Heimkehr meines Vaters was das jüngste Kind [an Unterernährung] gestorben. Die Mutter musste morgens immer früh fort zur Arbeit. Sie ging im Dunkeln und kam im Dunkeln wieder. Und das Kind haben wir herumgetragen, bis es krank wurde und gestorben ist. So haben wir gelebt und mussten uns herumquälen.

 

Ich aber bin größer geworden und habe geheiratet. Mein Mann, der älter war als ich, hat mir auch vieles über die „Trujdarmee“ erzählt. Dort haben sie ihn geschlagen und er durfte nicht dagegen sagen, um sich zu beschweren. Wenn er aber etwas sagte, hat man ihn bei der Polizei eingesperrt - er war erst sechzehn Jahre alt. Wieder beim Arbeitsdienst war es ihm verboten, eine Kartoffel [aus dem Acker] herauszunehmen. Als mein Vater dennoch einmal ein Krautblatt abbrach, wurde er geschlagen, getreten und als „Faschist“ beschimpft. Viele mussten verhungern, mein Großvater musste in der Arbeitsarmee verhungern und auch meinem Vater ging es schlecht, als wir ihn abgeholt haben. Ich hatte zehn Kinder zu versorgen, acht eigene und zwei Waisenkinder, die ich großgezogen habe. Mein Mann ist 1984 gestorben ist. Ich bin dankbar, dass ich nun hier in Deutschland leben kann. Vier meiner Kinder leben hier, sechs andere sind in Russland geblieben und dort mit russischen Ehepartnern verheiratet.

 

 

 

 

 Festhalten an kirchlichen Traditionen

 

Eine Sache habe ich vergessen zu erzählen: Als wir in Powolgje [der Wolgarepublik gewohnt haben, sind meine Eltern und meine Schwiegermutter und die Eltern meines Vater und meiner Mutter und all diejenigen, die älter waren, ständig zur Kirche gegangen..

 

Sonntags wurde nicht gearbeitet und bereits am Freitag für den Sonntag vorgekocht. Erst nachdem man nach Russland „hinübergeworfen“ wurde, wurde der Besuch der Kirch gefährlich: Man durfte Gottes Wort nicht öffentlich hören.

 

In der Regel lebten drei bis vier Familien in einer Stube zusammen, so auch war es auch bei meinen Eltern, wir haben mit drei anderen Familien zusammengewohnt.

 

Doch haben sie sich heimlich zusammengetan, die alten Mütterchen und die alten Väterchen und wollten Gottes Wort halten und niemand durfte davon erfahren. Sie haben die Fenster verhangen und die Türen zugeschlossen. Wenn die Behörden davon erfuhren, so ist man verurteilt worden.

Man durfte nicht aus dem Dorf laufen. Wenn man aus dem Dorf gelaufen ist … eine alte Mutter, die schon 70 Jahre war, wurde auf den Boden geworfen. Man musste hart arbeiten .  Wenn man krank wurde, durfte man nicht klagen. Wenn man ein Wort von Gottes Wort gesagt hat, bekam man 2 Jahre Strafe, hat man zwei Worte gesagt, bekam man 5 Jahre, die man aussitzen musste.

 

 

Doch haben sie sich heimlich zusammengetan, die alten Mütterchen und die alten Väterchen und wollten Gottes Wort halten und niemand durfte davon erfahren. Sie haben die Fenster verhangen und die Türen zugeschlossen. Wenn die Behörden davon erfuhren, so ist man verurteilt worden.

Man durfte nicht aus dem Dorf laufen. Wenn man aus dem Dorf gelaufen ist … eine alte Mutter, die schon 70 Jahre war, wurde auf den Boden geworfen. Man musste hart arbeiten .  Wenn man krank wurde, durfte man nicht klagen. Wenn man ein Wort von Gottes Wort gesagt hat, bekam man 2 Jahre Strafe, hat man zwei Worte gesagt, bekam man 5 Jahre, die man aussitzen musste.

 

Kommandantur-System

 

In Russland standen wir unter dem Kommandantur-System, Monatlich musste man sich bei der Regierungsstelle melden und unterschreiben, als Nachweis dafür, das man da ist (und das Gebiet nicht verlassen hat). Das Heiraten außerhalb des Dorfes war verboten, es war überhaupt verboten, das Dorf zu verlassen, ansonsten drohten Strafen.

So ging es in Russland mit uns, wir waren immer die „Faschisten“, bis zu unserer Ausreise nach Deutschland. So ging es nicht nur mir allein, sondern auch allen anderen Deutschen. Sicherlich gab es unter den Einheimischen auch Leute, die ein wenig Verstand hatten, aber mit den meisten war nicht gut auszukommen.           

 

Hungerjahre

 

Ach, eine Sache habe ich noch vergessen. Nach der Vertreibung des Jahres 1941 haben wir sehr gehungert. Unsere Eltern wurden heraus getrieben zur Arbeit, schon früh am Morgen  - es war noch dunkel. Wir Kinder sind zurück geblieben. Man hat uns die Kühe gegeben zum Melken, aber die Leute standen daneben und passten sehr gut darauf auf, dass beim Melken kein Tropfen daneben ging. Es gab einen großen Plan, indem die Milchmenge aufgeschreiben wurde, den musste man abgeben. Das kleinste Kind bekam dann endlich ein Glas Milch und so haben wir anderen Kinder geweint.

Wir liefen über die Äcker und Gärten und haben gefrorene Kartoffeln aufgelesen, um sie zu essen – wir hatten so viel Hunger, dass wir gar nicht wussten, was mir mit uns anfangen sollten.

Nun bin ich dem lieben Gott dankbar, dass er mich nach Deutschland gebracht hat. 

                    

Die Zwangsdeportation

 

Als wir aus der Powolgje [der Wolgarepublik} vertrieben wurden, war ich fünf Jahre alt. Meine Eltern hatten ein schönes Haus, und viel Vieh. Als sie vertrieben wurden, standen die Felder voll Frucht — es ist alles liegen geblieben, das zurückgelassene Vieh hat sich zu Tod gefressen. Den Leuten war es nicht erlaubt irgendetwas mitzunehmen, sei es Mehl oder Früchte oder irgendetwas anderes zu essen. So bald man sich angezogen hatte, wurde man auf ein Auto gesetzt und fort gefahren. Ein paar Leute aber hatten es geschafft, einen Sack voll Getreide und Frucht mit auf den Wagen zu nehmen. Der Wagen aber ist sehr scharf gefahren und da ist der Sack vom Wagen gefallen und geplatzt. Die Leute sind sich darüber in die Haare geraten und haben schrecklich geweint. Ich weiß das alles noch genau und kann alles erzählen.

 

Als wir dann von der Powolgje [der Wolgarepublik] nach Sibirien kamen, sind sehr viele von den einheimischen Leuten zusammen gelaufen und uns entgegengelaufen. Man wollte gucken, hatte man ihnen doch erzählt, es würden „Faschisten“ und „Hitlere“ gebracht - mit großen Köpfen und drei Augen im Kopf. Allerhand solche Dinge hatte man ihnen von uns erzählt. Als man dann sah, wie wir ins Dorf hinein fuhren, wunderte man sich über die Kleidung, die wir trugen. Wir konnten kaum etwas mitnehmen, hatten aber gute Kleidung weil wir gut gelebt haben. Die Einheimischen wunderten sich über unsere gute Kleidung, sie aber hatten weite gewebte Röcke und Hosen an — so als wären es Säcke. Die haben vieles von uns gelernt und abgeschaut, die russischen Leute.

 

Nun ich bin größer geworden und meine Tochter hat einen Russen geheiratet und so bekam ich einen russischen Schwiegersohn. Ich habe auch für ihn gekocht und gebacken — meinem Schwiegersohn hat es so gut geschmeckt, er bekam sich gar nicht satt gegessen. Als er dann nach Hause gefahren ist, hat er zu seiner Mutter gesagt: „Ich habe heute bei meiner Schwiegermutter etwas gegessen, was ich noch nie gegessen habe, so lange wie ich lebe - warum backst du so etwas nicht?“ Und da kam die Mutter meines Schwiegersohnes zu uns zu Besuch und sagte zu mir: „Sagen Sie mir bitte, was Sie [Gutes] gebacken haben, mein Sohn kommt alle Tage zu mir und tut mich damit quälen — Ich aber habe so etwas noch nicht gesehen.“ Und da habe ich es ihr erklärt… Und so haben die einheimischen Russen vieles von uns gelernt und gesehen. . . .Neben anderen Dingen die Sauberkeit, das Ordnung herrschte in Stube und Hof und das alles sauber war.

Und auch beim Kochen gab es einiges zu lernen. Die Russen haben die Augen ganz gut aufgerissen und gestaunt, was wir Deutsche für Leute waren ...


Anastasia K.*: „Die Menschen, die kein Russisch konnten, sprachen heimlich und sehr vorsichtig Deutsch.“

 

Zur Person

 

Ich heiße Anastasia K. (*Name geändert) und bin 1942 geboren. Meine Familie (Vater, Mutter, die ältere Schwester Hilda, und Bruder Wladimir) ist schon vor meiner Geburt im Jahre 1941 nach Kasachstan gezogen, als meine Mutter mit mir schwanger war.

 

Die Zwangsdeportation

 

Eines Nachts, kurz nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion im Oktober 1941 sind Leute gekommen, die unserer Familie befohlen haben, nach Sibirien zu ziehen. Vater aber war in dieser Nacht nicht zu Hause und so war meine Mutter mit ihren zwei Kindern, meinem Bruder und meiner Schwester, allein zu Hause. Es bestand kein Möglichkeit für sie, auf meinen Vater zu warten, damit sie zusammen nach Sibirien ziehe konnten. Um ihr Gepäck (Sachen für die Kinder und Lebensmittel) zusammen zu suchen, ließ man ihnen  nur eine Stunde Zeit. Darauf mussten sie in ein Auto steigen und wurden zum Bahnhof gebracht. Dort sollten sie in einen Zug, in dem auch Vieh transportiert wurde. 12 Tage sind sie dann gefahren, wobei der Zug sehr oft anhielt; es gab keine Lebensmittel, nur die wenigen, die meine Mutter selbst hatte mitnehmen können. Selten brachte der Zugführer warmes Wasser in den Zug, damit dadurch geheizt wurde. Weil es sehr später Herbst war, war es aber sehr kalt. Zuerst fuhr der Zug in Richtung Krasnojarsk. Da auf den Zug geschossen wurde (es herrschte ja Krieg), kamen sie aber zunächst nur bis nach Ost-Kasachstan, in eine Stadt, von der meine Mutter nicht wusste, wie sie hieß. (Sie durfte nicht nach dem Namen der Stadt fragen und konnte sich nur an die Gegend Ost- Kasachstan erinnern.) Von dort aus ging es weiter nach Nord- Kasachstan, in die Stadt Pavlodar und von dort aus wurden sie in einem Lastwagen in die Tromakov-Region gebracht. Dort musste Mutter auf einem sehr entfernten Bauernhof arbeiten. Es lag 60 km von dem Zentrum der Region entfernt.

 

Zwangsarbeit und Hungerjahre im Krieg

 

Am 4. Mai 1942 wurde ich geboren. Meine Mutter musste bis unmittelbar vor meiner Geburt noch das Vieh versorgen und war auch gezwungen, bereits 3 Tage nach der Geburt wieder zu arbeiten. Bruder und Schwester mussten das Kind versorgen. Wir wohnten zu dieser Zeit wie viele  Deutsche aus dem Saratov- Gebiet in einem Stall. Gemeinsam mit 20 anderen Familien. Ein 75j-ähriger Mann war als einziger bei den Kindern. Die anderen mussten arbeiten. Ich hatte Angst, dass ich sterben würde vor Hunger, aber ich habe überlebt.Auch alle anderen Kinder waren wegen der Folgen des Krieges sehr schwach und dünn, viele waren krank. Ich konnte nicht gehen, bis ich 5 Jahre alt war, weil ich unter Rachitis litt.

 

Die frühe Nachkriegszeit

 

Nach dem Krieg gab es dann mehr Lebensmittel. Ich nahm ein wenig an Gewicht zu, konnte aber, als ich 7 Jahre alt war, noch immer nicht in die Schule gehen; ich war einfach zu schwach und konnte nur eine Unterrichtsstunde am Tag ertragen. Im ersten Schuljahr musste ich die Schule abbrechen, kam aber mit 8 Jahren wieder hin. Zu dieser Zeit konnte meine Mutter eine Kuh kaufen, die Milch gab, das war 1950. Von da an ging es uns Kindern auf dem Bauernhof viel besser. Bis zum Jahre 1958 musste meine Mutter sich jeden Monat im Zentrum der Region anmelden. Ohne behördliche Erlaubnis war es den Russlanddeutschen nicht erlaubt, zu verreisen. Sie brauchten auch eine Erlaubnis, wenn sie in das Zentrum fahren wollten. Auf keinen Fall durften wir dort Deutsch sprechen. Die Menschen, die kein Russisch konnten, sprachen heimlich und sehr vorsichtig Deutsch.

 

Die Arbeit, die man leisten musste war schwer, und man bekam nur solche Arbeit, für die es wenig Lohn gab. 12 oder 14 Stunden pro Tag musste gearbeitet werden. Unsere Mutter ist morgens sehr früh zur Arbeit gegangen und abends sehr spät nach Hause gekommen. So habe ich als Kind meine Mutter nur selten gesehen und kann mich daher kaum daran erinnern, wie sie damals aussah. Über meinen Vater weiß ich nichts. Einmal haben wir auf einer Behörde nach ihm gefragt, aber wir haben ihn nie gefunden und erhielten auch keine Nachricht über sein Schicksal. Ich kenne meinen Vater also nicht und habe nur durch Erzählungen meiner Geschwister und meiner Mutter von ihm gehört. Nach der Rehabilitation der Deutschen im Jahre 1956 war das Leben ein wenig einfacher. Ich konnte, anders als meine beiden älteren Geschwister, die Hochschule absolvieren. Den älteren Geschwistern hatte man nach Abschluss der 7.Klasse befohlen, arbeiten zu gehen. Ich habe die Pädagogische Hochschule besucht und 3o Jahre lang im Bereich der Biologie gearbeitet. In den letzten Jahren, kurz vor der Ausreise nach Deutschland, bin ich Lehrerin gewesen, Aufgrund der Krankheit meiner Schwester und meiner Mutter war es mir nicht möglich vorher nach Deutschland zu kommen. Meine Mutter hatte eine schwere Form von Lungenasthma, sie bekam kaum Luft und es war ihr nicht möglich, Bus oder Zug zu fahren. Zuerst ist meine Schwester gestorben, dann meine Mutter und dann mein Bruder. Nach Deutschland kam ich mit meinen Kindern. All meine Kinder haben in Kasachstan die Hochschule absolviert und in entsprechenden Berufen gearbeitet. In Deutschland wurde aber nur die Ausbildung meiner Tochter anerkannt; sie ist Wirtschaftswissenschaftlerin. Die zweite Tochter, die gut deutsch spricht, arbeitet heute nicht in ihrem alten Beruf.



 

Video: Zwangsverschleppt - Bericht von Olga - SEG Neuerburg 2004

https://youtu.be/Z2-x9euWVLE


 

Olga N*: „Meine Eltern wurden 19. August 1941 vom Wolgagebiet, aus der Stadt Lauwe, vertrieben. Mein Name ist Olga N. (*Name geändert). Ich bin am 12. Oktober 1954 in Kasachstan in der Stadt Atbasar geboren. Jetzt wohne ich in der Stadt E. und bin schon fast 11 Jahre in Deutschland. Meine Eltern wurden 19. August 1941 vom Wolgagebiet, aus der Stadt Lauwe, vertrieben. Stalin dachte, dass die Wolgadeutschen den Deutschen helfen würden, den Krieg zu führen. Alles, was sie an Besitz hatten, mussten sie zurücklassen. Sie wurden mit hunderten Familien in einem Viehwaggon untergebracht und waren mit kurzen Pausen 9 Tage lang unterwegs. Mehr als die  Hälfte von ihnen starb, da sie kein Essen bekamen. In den Pausen wurden die Leichen einfach aus den Waggons geschmissen - ohne sie zu begraben. Wenn jemand flüchten wollte, wurde er erschossen. Einige Mütter drehten durch, wenn das eigene Kind starb. Eine Frau saß neben meinem Vater und fing an, ihr totes Kind zu essen. Nach dieser langen Fahrt kamen sie in die Stadt Atbasar (in Kasachstan) an. Da es keine Unterkunft gab, haben sie sich Höhlen in die Erde gegraben. Die Männer mussten in der Arbeitsarmee, der so genannten „Trujdarmee“, Arbeitsdienst leisten. Die Frauen blieben mit den Kindern in Höhlen und die, die keine Kinder hatten, mussten mit den Männern arbeiten. Nach dem kalten Winter bauten die Familien eigene Häuser.

 

Die Deutschen wurden wie Tiere behandelt und viele starben an Hungersnot. In der Winterzeit wurden die toten Menschen in den Schnee geworfen und im Frühling einfach zugeschüttet.Jeder Zwangsarbeiter in diesem Arbeitslager  bekam 100 Gramm Brot täglich. Zwei Freunde meines Vaters starben, ohne dass die russischen Soldaten etwas davon mitbekamen und so erhielt mein Vater und sein Freund zwei Stückchen mehr. Als erneut der Winter kam, stahl mein Vater zwei Bröckchen Kohle, um das Haus zu beheizen. Dafür musste er für zehn Jahre ins Gefängnis.Der Aufenthalt dort war noch schlimmer als im Arbeitslager. Als die Familien nach Kasachstan kamen, wurden die Neuankömmlinge von den Kasachen beschaut. Die Leute konnten sich wegen den verschiedenen Sprachen nicht verständigen. Es gab Fälle, dass zwischen den Nationen Freundschaften entstanden oder aber auch Streit. Nach dem Krieg verbesserte sich die Lage zwischen den Menschen. Jeder half dem andere gegenseitig z. B. Häuser aufzubauen.


 

Alexander N.*: „Ich war in dieser Zeit 3 Jahre jung“

 

Ich heiße Alexander N. (*Name geändert). In Deutschland lebe ich seit dem 01. Februar 2000. Nach dem Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 über die Umsiedlung der Deutschen, die im Wolgagebiet lebten, haben sie die Russlanddeutschen in Güterzüge „geladen“ und unter Bewachung nach Kasachstan und Sibirien transportiert. Die zuständigen Regierungsbehörden haben den Menschen nur 24 Stunden zur Vorbereitung gegeben. Was konnte man schon in 2 Hände packen — nicht gerade viel! Nur ein wenig zu essen, etwas zum Anziehen, Schlafsachen und Kinder. Keiner wusste, wie lange die Fahrt dauern wird. Die Leute mussten ihr Vermögen, Vieh und ihre Häuser zurücklassen. Das zurückgelassene Vieh musste gepflegt und gefüttert, die Kühe gemolken werden. Da keiner sich keiner mehr um die Tiere kümmern konnte, hat das Vieh hat vor Hunger und Schmerzen gebrüllt, die Hunde heulten. Das war jämmerlich. Ich war zu dieser Zeit drei Jahre jung. Meine Spielzeuge waren meine zwei Katzen, daran kann ich mich noch jetzt erinnern, weil ich sie verlassen musste und sie mir nachgerannt sind.

 

Der Weg in den Güterzügen war sehr schwierig, in den Waggons gab es keine Toiletten. Die Leute hungerten. Viele sind gestorben. Der Zug hielt manchmal an, damit die Leute sich etwas zu essen holen und die Toten aus den Waggons entsorgt werden konnten. Der Zug fuhr durch Kasachstan nach Sibirien. Viele mussten in Kasachstan bleiben, andere weiter nach Sibirien ziehen.Es war bereits Winter, als unsere Familie in Sibirien ankam. Man hatte kein Dach über den Kopf und kaum etwas zum Essen. Im Winter hatten manche Leute an einem Fuß einen Lederstiefel und  an dem anderen Fuß einen Filzstiefel an. Die örtliche Regierung verteilte die deutschen Leute unter den einheimischen Familien auf, aber nur für die Winterzeit. Wir wurden von den Einheimischen sofort als „Faschisten“ beschimpft. Die einheimische Bevölkerung, die auch sehr arm lebte, gaffte uns zunächst an, so als dachten alle, wir hätten Hörner und Schweinsgesichter.

 

Die Einheimischen bekamen immer häufiger „Todesbriefe“; Nachrichten darüber, dass Sohn oder Vater an der Front gefallen seien. So brach wieder der Hass auf die Deutschen, die hier wohnten, aus! Die schwierigste Arbeit und mit kleinem Lohn mussten wir machen. Nachdem ein Monat vorbei war, bekam ein Erlass, die deutschen Männer in die „Trujdarmee“ zu nehmen. Das war ein Jammer! Mein Vater wurde in die Archangelsk-Region verschickt, unweit der Stadt Kotlas. Dort  ließ die Regierung eine Brücke errichten. Wegen der schlechten Ernährung erkrankte mein Vater und nach nur zwei Monaten war er tot. Wir erhielten von ihm keine Briefe, nur sein Bruder schickte einen einzigen Brief, in dem er ein paar Worte geschrieben hat und so erfuhren wir vom Tod des Vaters. Am Ende des Winters 1941/42 mussten wir aus der zugewiesenen Mietwohnung heraus auf die Straße. Meine Mutier sollte für sich und ihre vier Kinder (das älteste war 16 Jahre alt) um eine Wohnung bemühen. Sie fand keine bezahlbare Wohnung und konnte nichts anderes machen, als eine Erdhütte mit einem kleinen Fenster zu errichten. Hier mussten wir einige Jahre wohnen. Im Sommer kam dann ein Regierungserlass, der besagte, dass alle Frauen, deren Kinder älter als drei Jahre waren, auch in die Trujdarmee zum Arbeitsdienst mussten. Die Familien und Kinder musste zurückgelassen werden. Eines Tages kam in unser Dorf ein Mann aus der Trujdarmee zurück. Jeden Tag ging er durch das Dorf und bettelte um etwas Essen. Die Leute gaben ihm immer etwas zu essen, aber das hat nichts mehr geholfen. Er war bereits so ausgehungert, das er nach zwei Monaten starb. Mein ältester Bruder war 16 Jahre alt und musste auch in die Trujdarmee, nach Tscheljabinsk. Aber er konnte entkommen und so wurde er gerettet.

 

Erst nach 1956 war es den Deutschen erlaubt, in andere Dörfer zu gehen. Und erst 1957 durften Deutsche als Soldaten in der Roten Armee dienen. Als Deutscher wurde man in Russland als Mensch zweiter Klasse behandelt. Wenn etwas Schlechtes getan wurde oder es passierte etwas Schlimmes - wer war schuld? – Die Deutschen! Gerade so wie wir ["Russen“] hier in Deutschland der Sündenbock für vieles sind. Die Schule, die ich besuchte, befand sich im Nachbardorf und war 10 Kilometer von unserem Wohnort entfernt. Ob Winter oder Sommer, ich musste diese Strecken zu Fuß schaffen. In unserem Dorf gab es auch eine Schule, aber sie war noch schlechter, als man sich das vorstellen kann, deswegen entschied ich mich für eine andere Schule. Eigentlich durfte man aber nur die Schule besuchen, die im Wohnort lag. Einmal ging ich nach dem Unterricht nach Hause und entdeckte, dass ein Polizist vor der Haustür bereits auf mich wartete. Ich bekam unheimliche Angst und dachte, dass er mich verhaften wollte. Der Polizist schrie mich an und schimpfte ohne Ende, beleidigte mich und meine Knie zitterten. Als der Mann das bemerkte, wurde er ruhiger, verzieh mir meinen Fehler, und sagte nur, dass ich mich nicht wieder erwischen lassen sollte.

 

Jetzt bin ich 64 Jahre alt. Und lebe seit Februar 2000 hier in Deutschland. Man kann nicht behaupten, dass es mein eigener Wunsch war, nach Deutschland umzuziehen. In Russland fing 198o die Periode der „Perestroika“ [der wirtschaftlichen Umgestaltung] an. Die Leute in Russland wohnten schon immer unter ärmlichen Umständen, aber nun wurde es – insbesondere für die ganz alten und die ganz jungen Menschen - noch schlimmer. Mein jüngster Bruder wohnte vor unserer Übersiedelung schon eineinhalb Jahre in Deutschland Da er sich einsam fühlte, bat er mich, auch mitzukommen. Er erzählte, wie schön es hier sei. Von dieser Schönheit hatte ich viel gehört und gelesen - aus verschiedenen Quellen. Nun wollte auch ich dieses Paradies erfahren. Darum habe ich mich entschieden, mit meiner Familie umziehen. Das Leben aber mussten wir neu beginnen. Ein neues Land, eine neue Wohnung, ungewohnte Speisen, ein neues Studium, eine neue Sprache usw. und das alles auf einmal! Schon bald kamen die ersten Enttäuschungen. Negativ war vor allem, dass wir nicht gut m unserer (in den Ohren der Einheimischen) ungewöhnlichen plattdeutschen Sprach zurechtkommen konnten. Die meisten wollen uns einfach nicht verstehen. Der sechsmonatige Sprachkurs, den man besuchen konnte, war einfach zu kurz — in sechs Monaten kann man eine Sprache nicht erlernen. Die sprachlichen Schwierigkeiten aber stellt die  Leute in die zweite Reihe: Man kommt sich vor wie ein kluger Hund, der zwar alle versteht, aber selbst nichts sagen kann. Insbesondere für die jungen Leute, (die das Deutsche gar nicht beherrschen) ist das Problem der Sprach besonders schwierig. Es gibt aber noch viele andere Schwierigkeiten, die z.B. im beruflichen Bereich liegen. Die Einheimischen sind oft hochmutig: Sie haben Häuser, Autos, Jobs. Und sie stellen uns die Frage, warum wir hierher gekommen sind. Nun, jeder, der nach Deutschland kam, dachte, dass er einen Job bekommt, das Vertrauen der Einheimischen gewinnt und Hilfe, die Sprache und das neue Leben zu verstehen - aber das waren oft nur Träume. Die meisten erhielten eine schwere, schlecht bezahlte Arbeit. Eine ehemalige Ingenieurin arbeitet als Putzfrau. Die Einheimische haben die besser bezahlten Jobs, die Hergekommenen sind wie Sklaven. Ob es Unterschiede zwischen den Einheimischen und uns Aussiedlern? — Nun, die jungen Leute wurden in Russland strenger erzogen. Keiner lief sofort zur Polizei, um zu klagen, wenn er zu Hause beleidigt war.  Wir wollen keine Konflikte mit den Einheimischen. Jeder schwache Frieden ist immer besser als eine offene Feindschaft. Ich denke, wenn ich einen einheimischen Nachbarn hätte, mit dem ich reden könnte, und manchmal zu Gast kommen könnte, um über Probleme zu reden, so könnte ich mich zu Hause fühlen.  Wie könnte man das Verhältnis zu den Einheimischen verbessern? Hier gibt es, so denke ich, einen guten Rat: Jede Familie, die nach Deutschland zuzieht, sollte zunächst zusammen mit Einheimischen in einer Wohnung leben, um einander kennen zu lernen, so lange, bis man sich orientieren kann in dem Leben, den Gesetzen, der Sprache usw.. Wenn dem so wäre, würde es auch keinen Hass zwischen Einheimischen und Zuwanderern geben. Ob ich manchmal Heimweh habe? Nun, wo ist unsere Heimat? Gibt es so etwas überhaupt? In Russland ist unsere alte Heimat an der Wolga vernichtet. Und, ich denke, es gibt niemanden, der sie aufbaut. Die Orte in Kasachstan und Sibirien, in die man uns mit Hilfe von Güterzügen verschickte …das ist auch nicht unsere Heimat. In Deutschland, unserem historischen Vaterland - sind wir Russen. Man könnte zu diesem Thema noch viel sagen, aber wozu …?




 

Mit den Berichten der Zeitzeugen ist die Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt. Im Zeichen von Perestrojka und Glasnost der Ära Gorbatschow ist die Debatte um die Autonomie der Deutschen in Russland verstärkt wieder in Gang gekommen. Aber die zögerlich hinhaltende Politik der Regierungen der UdSSR bzw. Russlands, die Absage an die Wiederherstellung der Wolgarepublik sowie der zunehmende Verdrängungsdruck in Kasachstan und in Mittelasien führten dazu, dass bereits in den Jahren 1991 und 1992 knapp 343.000 Russlanddeutsche nach Deutschland aussiedelten und über 801.000 einen Aufnahmeantrag stellten.


 

Julia: „Wegen der Sprachprobleme konnte ich zunächst kaum Freundschaften schließen”
Ich heiße Julia (*Name geändert) bin 16 Jahre alt und besuche die 9.Klasse. In Deutschland lebe ich seit 1998. Eigentlich wollte ich nicht nach Deutschland auswandern, im Gegensatz zu meinen Eltern. Nach gut fünf Jahren fühle ich mich schon sehr wohl hier. Am Anfang war es schwierig für mich, aber später ging es. Wegen der Sprachprobleme konnte ich zunächst kaum Freundschaften schließen, aber nun schon. Meine Hoffnungen und Erwartungen an Deutschland haben sich weitgehend erfüllt, zumal ich zur Zeitpunkt der Ausreise erst elf Jahre alt war und mir nichts Genaues vorgestellt habe. Zuerst waren die Einheimischen für mich wegen der Sprache fremd, weil wir uns nicht verstehen konnten. Dann, wenn ich gar nicht verstand, was um mich herum gesprochen wurde, fühlte ich mich unwohl. Mit den Freizeitangeboten hier kann man zufrieden sein, die Auswahl ist recht groß. Um das Verhältnis zwischen Einheimischen und Aussiedler zu verbessern, sollte man an erster Stelle die Sprache lernen. Manchmal habe ich auch Heimweh, da ich in Russland noch immer viele Verwandte und Freunde habe.

 

Julia*, Schülerin des Staatlichen-Eifel-Gymnasiums-Neuerburg, Winter 2003/2004


 

Natalie*(16): „.... Ob ich Heimweh habe? Ja, natürlich!“

 

Ich bin Natalie (Name geändert) und bin 16 Jahre alt. Seit einem Jahr und 8 Monaten wohne ich in Deutschland, aber es war nicht mein Wunsch hierher zu kommen, sondern der meine Eltern, weil sie meinten, dass ich und meine Schwester hier eine bessere Zukunft haben werden. Obwohl ich meine Freunde und Verwandte sehr vermisse, fühle ich mich hie eigentlich ganz wohl. Natürlich gab es am Anfang sehr große Probleme mit der Sprache, weil ich sie nie gelernt habe. Jetzt habe ich damit keine Schwierigkeiten mehr und ich bin mit meinem jetzigen Leben ganz zufrieden. Ehrlich gesagt, als ich nach Deutschland gekommen bin und unser Wohnheim gesehen habe, wollte ich die Zeit zurück drehen und wieder in Russland sein, wo alles für mich so bekannt und schön war. Aber mit der Zeit hat da Heimweh nachgelassen und vieles hat sich geändert. Ich habe neue gute Freunde gefunden mit denen ich viel Neues und Schönes erlebt habe. Am Anfang hatte ich keinen Kontakt zu den Einheimischen. Als ich eine Hauptschule besucht habe, war ich von meinen Schulkameraden enttäuscht. Sie wussten, dass ich Deutsch schlecht verstehe und haben dies ausgenutzt. Manchmal brachten sie mich zum Weinen. Bis jetzt bin ich nicht sicher, ob sich meine Hoffnungen für Deutschland erfüllt haben oder nicht, aber mal gucken‚ wie es weiter geht. Man fühlt, dass wir und die Einheimischen sich von einander unterscheiden. Der größte Unterschied liegt darin, dass wir uns in verschiedenen Sprachen verständigen, deswegen hat man ein unangenehmes Gefühl. Sie haben auch eine andere Mentalität als wir und werden anders erzogen. Um ihren Charakter, ihre Gedanken und Lebensweise näher kennen zulernen, will ich schneller Deutsch lernen. Für mich ist es immer interessant, eine fremde Kultur und unbekannte Leute kennen zu lernen. Ich bin mit den Freizeitangeboten ganz zufrieden. Es gibt immer Orte, wohin ich mit meinen Freunden ausgehen kann. Das Schulsystem finde ich nicht so gut, weil die Ausbildung hier so lange dauert. Obwohl ich hier wohne, habe ich doch versucht die mitgebrachte „russische‘ Kultur beizubehalten und was die Sprache betrifft, benutze ich öfter das Russische als da Deutsche. Nur in der Schule habe ich jemanden, mit dem ich mein Deutsch trainieren kann. Ob ich Heimweh habe? Ja, natürlich. Manchmal möchte ich zurück nach Russland.


 

Irina*: „Man kann die beiden Kulturen aber auch nicht direkt vergleichen, da sie sehr unterschiedlich sind...“

 

Ich bin 17 Jahre alt, heiße Irina (*Name geändert) und besuche das Gymnasium. Ich bin seit fünf Jahren in Deutschland. Ich wollte nicht nach Deutschland, denn ich fühle mich hier anfangs nicht wohl. Ob ich enttäuscht bin? Nun, ich hatte keine konkreten Erwartungen, als ich hier her kam.

 

Positiv ist, dass ich viele Leute, eine neue Kultur und eine neue Sprache kennen gelernt habe. Trotzdem wäre ich lieber dort, in der Ukraine geblieben. Allerdings ist die ökonomische Seite des Lebens für die Gesamtbevölkerung hier besser. Ich habe hier auch eine gute deutsche Freundin, mit der ich gut klar komme. Sonst aber habe ich keinen Kontakt zu einheimischen deutschen Mitschülern.

Die ersten Erfahrungen hier in Deutschland waren schlimm: Als ich auf der Hauptschule neu in die Klasse kam, hatten die Schüler kein Interesse daran, mit mir Kontakt aufzunehmen. Wegen meiner schlechten Deutschkenntnisse konnte sie auch nicht verstehen. Eine russische Mitschülerin half mir, indem sie mir übersetzte, was meine Mitschüler sagten. Schon vom ersten Tag an hatte sie alle eine negative Einstellung gegen mich. Als ich in die Klasse kam, sollte ich mir einen Platz aussuchen, jedoch gab mir jeder zu verstehen, dass er mich nicht zur Banknachbarin haben wolle. Ich war sehr enttäuscht. Die Einheimischen bewarfen mich mit Kaugummi und gekautem Brot.

Bei „uns in der Ukraine“ wäre so etwas, so denke ich, sicher nicht vorgekommen. Ich denke allerdings, dass die Einheimischen es nicht gemacht hätten, wenn sie alleine gewesen wären. Ich weiß nicht, wo die Ursache für das feindschaftliche Verhalten liegt, vermute aber, dass die Deutschen Angst davor haben, dass die Ausländer eine Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt darstellen könnten. Man kann die beiden Kulturen aber auch nicht direkt vergleichen, da sie sehr unterschiedlich sind. Ein großer Unterschied liegt z. B. in der Vermittlung von Werten, also von dem, was gut und böse ist. Hier ist die Gesellschaft viel lockerer, dort aber hatten die Werte Menschlichkeit, Würde und Anstand eine größere Bedeutung, Ideen, an die man glaubte. Die Vermittlung solcher Wertvorstellungen hat hier eine geringere Bedeutung: Im Religionsunterricht werden eher Märchen und Legenden erzählt, die Zuhörer aber halten häufig nichts davon. Im Ethikunterricht sprechen wir über Gerechtigkeit, abstrakte Dinge, die die meisten gar nicht verstehen oder nicht ernst nehmen, manche lachen darüber.  An unseren Bräuchen und unserer Kultur halten wir innerhalb der Familie fest, die Sprache, die wir sprechen und die Feiertage, die wir feiern.

 

So feiert man Weihnachten „bei uns“ am 7. Januar und das Sylvesterfest hat eine größere Bedeutung ... und ich denke, ich will dies auch in 20 Jahren noch so beibehalten. Auch möchte ich weiter Russisch sprechen. Mit meinem Kind würde ebenfalls ich russisch sprechen, aber das kommt dann ganz auf die Situation an. Ich habe mich nicht sehr viel verändert, aber dazu gelernt, dass man mehr auf sich selbst als auf die anderen hören soll. Viele Verwandte und Freunde von mir leben noch in der Ukraine. Wir schreiben uns noch oft und telefonieren miteinander.

 

Irina*, Schülerin des Staatlichen-Eifel-Gymnasiums-Neuerburg, Winter 2003/2004


 

Vladimir*: (“Ich habe kein Heimweh, würde meine Heimatstadt aber gerne besuchen“) und Olga* („Jetzt fühle ich mich ganz wohl“)

 

Olga: Ich heiße Olga (*Name geändert), bin seit viereinhalb Jahren in Deutschland und besuche die 12. Klasse des Gymnasiums in N..

 

Vladimir: Mein Name ist Vladimir (*Name geändert) Auch ich bin in der 12. Klasse.

 

Olga: Ob es mein Wunsch war, nach Deutschland auszureisen? Meine Mutter hat mich nicht gefragt.

 

Vladimir: Das erste Mal war ich in Deutschland im Jahre 1995. Zu dieser Zeit wohnte mein Opa und meine Oma schon hier und all meine Verwandten, ich aber lebte noch in Russland. Es hat mir gefallen, wie es hier in Deutschland aussieht und wie man hier lebt.

 

Olga: Jetzt fühle ich mich ganz wohl. Ich kann die Schule besuchen und habe die Chance eine gute Arbeit zu bekommen. Ob das in Russland so wäre — ich weiß es nicht. Ich würde gerne einmal Russland besuchen, meine Heimatstadt, aber so richtig Heimweh habe ich nicht.

 

Vladimir: Wie hat sich das Leben hier entwickelt hat? Nun ja, nachdem ich das erste Mal in Deutschland war, wollte ich wieder hierhin zurückkommen, weil ich wusste, das das Leben hier viel besser und viel schöner ist, als in Russland. Die Lebensbedingungen sind hier einfach besser.

 

Olga: Streit mit den Einheimischen? - Hatte ich nie so richtig, aber angenommen wurde ich nur von den Russen, von den Deutschen nicht.

 

Vladimir: In meinem Falle war [der Start ins neue Leben] ganz o. k., vor allem wegen der Sprache Meine Mutter konnte gut Deutsch sprechen, da sie eine Deutsche ist. Für mich war es auch kein so großes Problem, da ich schon ein bisschen deutsch konnte (bis zu meinem fünften Lebensjahr habe ich in Kirgisien nur deutsch gesprochen). Außerdem konnte ich schnell einen Sprachkurs in H. besuchen.

 

Olga: Auf meiner ersten Schule (der Hauptschule in A.) ist niemand auf mich zugekommen, ich war häufig alleine und immer nur mit Russen zusammen. Wir und die Einheimischen sind ganz verschiedene Menschen. Sie sehen die Welt ganz anders: Die Einheimischen denken über vieles nicht nach und machen manches nur, weil es viele andere auch machen.

 

Vladimir* und Olga*, Schüler des Staatlichen-Eifel-Gymnasiums Neuerburg, Winter 2003/2004