Sozistunde 12302 - Russland - Ukraine - Europa. Alpha -Demokratie-Sendung vom 27 02 2022


alpha-demokratie extra : Russland - Ukraine - Europa (br.de)

Online bis 27.02.2027, 13:40 Uhr 

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  alpha-demokratie: Russland - Ukraine - Europa | ARD Mediathek

Russland - Ukraine - Europa: Über die Hintergründe des aktuellen Konflikts, Putins Ziele und welche Schlüsse wir daraus ziehen müssen, sprechen bei alpha-demokratie extra die Gäste Prof. Herfried Münkler und Prof. Ricarda Vulpius.

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Modaratorin Eva Lell:  Russland hat die Ukraine tatsächlich angegriffen. Dieser Konflikt schwelt seit Jahren. Welche politischen und wirtschaftlichen Hintergründe gibt es und welche kulturellen und historischen Beziehungen? Antworten auf diese Fragen gibt es jetzt bei diesem „Alpha Demokratie Extra“  zu den Hintergründen der aktuellen Situation.

Herzlich Willkommen. Am Abend eines Tages, der bestimmt war von Nachrichten über die russischen Angriffe auf die Ukraine beleuchten wir die Hintergründe mit Dokumentationen und dieser Gesprächsrunde. Zu Gast ist Ricarda Vulpius; sie ist Professorin für osteuropäische Geschichte an der Universität Münster und der Politologe und Konfliktforscher Herfried Münkler - guten Abend! […] Frau Vulpius sie haben Kontakte in die Ukraine. Haben Sie heute Nachrichten bekommen von ihren Bekannten dort?

 

Ricarda Vulpius: Ja, wir stehen in engem Kontakt zu all den Mitgliedern der deutsch- ukrainischen Historikerkommission und wir haben auch heute noch gemeinsam an einer Resolution gefeilt, die wir jetzt auch auf unserer Homepage veröffentlicht haben und unsere Gedanken sind sehr bei unseren Kollegen und Kolleginnen. 

 

Modaratorin Eva Lell:  Herr Münkler, wir haben in der Dokumentation gerade gehört: Präsident Selenskyi, der ukrainische Präsident [sagte] vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York 2019, niemand könne sich sicher fühlen, wenn es Krieg in der Ukraine gebe. Bewahrheitet sich das jetzt? 

 

Herfried Münkler: Na ja gut, das ist auch eine Äußerung von Selenskyi, die natürlich die Europäer und die Amerikaner – aber vor allen Dingen die Europäer -  daran interessieren sollte, zu verhindern, dass es Krieg in der Ukraine gibt. Im Augenblick würde ich sagen, unterscheidet sich die Frage der Sicherheit von Menschen sehr deutlich, wenn sie sich auf ukrainischem Gebiet aufhalten und wenn sie sich auf dem Gebiet von Nato-Staaten aufhalten!

 

Modaratorin Eva Lell: Wir reden noch über die Zukunft. wollen jetzt aber auf die Geschichte der beiden Nachbarstaaten - der Brudervölker - schauen.

Wladimir Putin sagt, die Ukraine gehöre historisch zu Russland und begründet das mit [dem gemeinsamen historischen Ursprung] … vor 1000 Jahren. Stimmt das?

 

Ricarda Vulpius: Es hat eine sehr lange Tradition, dass Menschen aus Russland sagen, das sei eigentlich ein Volk und man hätte eine gemeinsame Geschichte. Das ist ein imperialer Nationalismus, der dieses Narrativ geformt hat und eben eine sehr lange Tradition hat. Es fängt an mit einer gemeinsamen Herkunft aus der „Kiewer Rus“ - das ist ein ostslawischer, multiethnischer Herrschaftsverband [also ein ostslawisches Großreich, [welches um 1000 n. Chr. gegründet wurde], wo es keine Russen, keine Ukrainer und keine Belarussen gab, sondern die Ostslawen, aus denen dann diese drei Völker später hervorgegangen sind.

 

Insofern: Wenn wir über das Mittelalter sprechen, so kann man definitiv noch nicht von irgendwelchen getrennten Völkerschaften [Russen, Ukrainer und Belarusse n] sprechen.

 

Modaratorin Eva Lell: Putin ist ja nicht der Einzige, der das so sieht - das eben Geschilderte,  die Ukraine gehöre zu Russland. Andere Politiker haben das auch schon so gesagt, auch in den 1990er Jahren.  Viele in Russland  - auch in der Bevölkerung sehen die Ukraine nicht als eigene Nation. Erleichtert dies den Angriff jetzt, Herr Münkler?

 

Herfried Münkler: Na ja gut, ich meine Putin betreibt [damit] Geschichtspolitik. Er erzählt Geschichten, die so Legitimationen darstellen. Der Angriff selber, der läuft nach militärischen Regeln ab - da glaube ich, da spielt das keine große Rolle.

Aber: Wir müssen wir uns ja nur mal überlegen, was das bedeuten würde, wenn die Westeuropäer das Modell, das in den 50er Jahren aufgetan haben, nämlich den Anspruch, sich allein auf wirtschaftliche Verflechtungen und demokratische Entscheidungen zu konzentrieren, wenn sie das aufgeben würden, und jetzt Franzosen und Deutsche, aber auch Ungarn und Polen (das gab es ja in der Zwischenzeit - sozusagen die Vorstellungen von Großungarn und Großpolen), Griechen und Türken mit solchen [historischen] Ansprüchen daherkämen. Dann würde man wohl sagen: Dann wäre in West- und Mitteleuropa die Hölle los!Also - es ist sozusagen ein Instrument, das stark konfliktträchtig ist und das am besten sozusagen in den Kasten der historischen Nostalgie gehört!

 

Modaratorin Eva Lell: Hat es schon jemals einen Konflikt gelöst, wenn mit geschichtlichen Situationen argumentiert wurde - oder verschärft es und macht Lösungen unwahrscheinlicher?

 

Herfried Münkler: In der Regel kann man sagen, es [die Argumetation mit geschichtlichen Situationen] verschärft Lösungen. Man könnte sagen: Es ist der Alp[traum] der Vergangenheit der auf dem Gegenwärtigen lastet.

Die demokratische Vorstellung ist ja, dass die jetzt lebenden Menschen das entscheiden und nicht Kontingenzen der Vergangenheit und derlei mehr. Aber natürlich kommen wir davon nicht los. Uns begleitet die Geschichte. Man kann ja auch sagen, das europäische Projekt ist die Erinnerung an das Reich Karls des Großen  und die drei großen Europäer waren sozusagen alles Karolinger. Also: Es gibt … historische Erzählungen, die eher kriegsavers (kriegsabgewandt) sind: [Die Gründerstaaten der EU haben aus der Vergangenheit gelernt und setzten auf wirtschaftliche Verflechtung]. Aber viele [historische Erzählungen] sind eher kriegstreibend!

 

Modaratorin Eva Lell:  Die heutige Ukraine war ja im 18. und im 19. Jahrhundert zweigeteilt sozusagen: Der Westen gehört[e] zum Habsburger Reich, der Osten zum [russischen] Zarenreich – wirkt das bis heute nach in Kultur und Religion?

 

Ricarda Vulpius: Es wird sehr stark nach - und ich möchte gerne noch etwas hinzufügen, was ich gerade eben noch nicht genügend ausgeführt hatte. Die Grundfrage war ja zuvor gewesen, inwieweit es sich hier um ein Volk handelt - und ich hatte jetzt gerade erstmal nur mit dem Mittelalter begonnen. Ich wollte gedanklich das gerade fortsetzen. Es ist natürlich danach zu einer ganz starken Auseinanderentwicklung gekommen: Nach dem Einfall der Mongolen hat es eine völlig separate Entwicklung gegeben. Und das führt uns dann in das 18. Jahrhundert, was sie gerade angesprochen haben, wo nachdem … [die Ukraine] nun eine Zeit unter Polen-Litauen verbracht hatte und einer völlig anderen kulturellen Einflusszone angehörte. In der heutigen Ukraine haben die Menschen haben mit Polen-Litauen die Reformation und die Gegenreformation erlebt - vorher noch die Renaissance. Es gab Einflüsse natürlich auch durch das Stadtrecht - all das sind Dinge, die in Russland nicht mit nachvollzogen wurden - also insofern [gab es eine] sehr heterogene Entwicklung.
Und es k[am] nun dann im 17. Jahrhundert dazu, dass die so genannte „linksufrige“ [Ost-] Ukraine - das [kosakisch-tartarische] „Hetmanat“ - aufgenommen wird in den Untertanenverband des Zaren und nun also die Ukraine geteilt ist zwischen einer östlichen und einer westlichen Ukraine  und im 18. Jahrhundert dieser eine Teil dann zum Russischen Reich gehört[e] und - im 18. Jahrhundert - der andere Teil oder ein kleiner [West]-Teil - nämlich Galizien - zum Habsburger Reich.  

Und: In dieser Zeit entwickeln sich völlig unterschiedliche Strukturen. In dem … Zarenreich dominiert natürlich die russische-orthodoxe Kultur und im Habsburger Reich[– also in Österreich-Ungarn-] [war] es so, dass die galizischen Ukrainer sich sehr frei - auch in Wort und Schrift - äußern konnten und dann im frühen 19. Jahrhundert eine Nationalbewegung herbeiführen, die sehr stark [war], sie ist vor allem sehr stark gegen Polen gerichtet und führt dann zu einem sehr starken Eigenbewusstsein.

 

 

Modaratorin Eva Lell:  Wir springen: Wie war die Stellung die die Rolle des Landes in der Sowjetzeit?

 

Ricarda Vulpius: Also, zunächst einmal muss man sich die Gründungszeit [der Sowjetunion] anschauen. Es hatte ja eine eigene, eine ukrainische Volksrepublik 1917 gegeben: Zunächst hatte diese nur den autonomen Status und hat sich dann für unabhängig erklärt. und dann haben die Bolschewiki diesem Staat ein Ende bereitet. [Die ukrainische Volksrepublik wurde nach dem Einmarsch der Roten Armee Anfang 1920 aufgelöst]. 

Es gab noch einige Zwischenphasen - die deutsche Besatzung und so weiter …

Aber zumindest hat es dann durch die Machtergreifung der kommunistischen Bolschewiki eine Heranführung der Ukraine in den sowjetischen Staat gegeben: Die Ukraine war einer der Gründungsstaaten der Sowjetunion.

Und dort gibt es ganz unterschiedliche Phasen. Es [gab] zunächst mal die Phase der 20er Jahre, wo eine starke Förderung der ukrainischen Kultur einsetzte, die dann Ende der 20er – um 1928 - ihr Ende fand und umschlug in eine ganz entsetzliche Phase desTerrors, die zunächst die  ukrainische Intelligenz erfasste und dann in den „Holodomor“ mündete, den „Großen Hunger“ von 1932/33, dem große Teile der ländlichen Bevölkerung in der Ukraine zum Opfer fielen [Man spticht von drei bis sieben Milionen Opfern dieser Hungersnot].

 

Modaratorin Eva Lell:  Zum Holodomor, zur Hungerkatastrophe - noch zwei, drei kurze Sätze, Frau Vulpius - wie kam es dazu?

 

Ricarda Vulpius:  Es ist vielschichtig: Stalin hatte das Ziel, die Sowjetunion zu einer führenden Industriemacht zu entwickeln und zuvor war [die Sowjetunion] vor allen Dingen eine Agrarmacht. Und die forcierte Industrialisierung war nur möglich durch einen Getreideüberschuss, der zu erzielen war, indem man massiv kollektivierte - in dem massiv Getreide requirierte.

Und: Entsprechend dem ideologischen Modell der Bolschewiki oder dann der Sowjets ging das damit einher, dass man die Bauern - gerade auch in der Ukraine – zwang, ihre Höfe alle zusammenzulegen – in Kolchosen zu organisieren. Und diese Kollektivierung, die Enteignung der Bauern die Entziehung des Privateigentums und …der Zwang, … Getreide  abzuliefern wurdebis ins Extremste gesteigert, dass die Menschen selber sich nicht mehr versorgen konnten: Und das war dann zunächst mal die Grundsituation, Selbst, als dann die Menschen an Hunger litten und Appelle an Moskau richteten („Wir sterben; wir brauchen hier Versorgung!) hat man diese Versorgung ihnen verwehrt. Und noch schlimmer: Man hat sogar - und das ist nur für die Ukraine gemacht worden (nicht für andere  Hungergebiete), man hat sie sogar abgesperrt so dass Hungernde nicht in den russischen Teil fliehen konnten, um sich irgendwie noch Restlebensmittel zu verschaffen, um zu überleben

 

Modaratorin Eva Lell:  Es ist ja umstritten, ob der Holodomor Genozid … ist: In der Ukraine wird das so gesehen: Welche Bedeutung hat dieses Ereignis bis heute, Herr Münkler?

 

Herfried Münkler:  Na jedenfalls, wenn es entsprechend erzählt wird, hat das eine traumatisierende Bedeutung. Und: Man kann schon nachvollziehen, dass große Teile der [ukrainischen] Bevölkerung sagen: „Die haben an uns etwas verübt“. (also „die russische Führung bzw. die sowjetische Führung, die haben an uns etwas verübt) und „mit denen wollen wir deswegen nichts mehr zu tun haben“. Also: Das ist sozusagen ein Faktor Trennung von „Wir“ und die „Anderen“.  [Dies] wird natürlich auch geschichtspolitisch benutzt, so wie Putins Erzählung der Einheit, ist das gewissermaßen eine Erzählung der guten Gründe des politischen Abstands gegenüber [Russland und] dem Osten.

 

Modaratorin Eva Lell:  Wenn Putin heute davon spricht, dass auf dem Maidan in Kiew ukrainische Rechtsextremisten demonstrieren und die gewählte Regierung „Nazis“ nennt, damit nimmt er ja auch Bezug auf die Rolle der Ukraine im Zweiten Weltkrieg.  Welche Rolle hat die Ukraine da gespielt? 

 

Herfried Münkler:  Naja ja: Sie hat, wenn (wie die deutsche Außenministerin das war in der letzten Zeit mehrfach getan hat) von den Opfern der Sowjetunion gesprochen wird, die relativ meisten Opfer gebracht. Das etwas mit der Intensität der Kriegführung zu tun [und mit den relativ vielen relativ vielen …. Juden, die da gelebt haben zu tun.

 

Und natürlich gab es unter diesen Umständen auch Gruppierungen, das gab es fast überall in Europa [und] betrifft im Übrigen auch - mit Verlaub - die Russen selber, die sich, im weiteren Sinne der Wehrmacht [also der deutschen Armee] angeschlossen haben, ich würde nicht sagen unbedingt den Nazis, sondern der Wehrmacht, um gewissermaßen in ihr ein Instrument … der Separation und der Autonomie zu sehen.
Das ist ein historischer Irrtum auf [ukrainischer] Seite gewesen, sicher auch teilweise verbunden mit einer ordentlichen Portion Antisemitismus. Aber es ist sicherlich völlig daneben jetzt mit dem Finger auf die Ukraine zu deuten. und zu sagen: „Die waren es und die waren es vor allen Dingen“ sondern das [die Kollaboration mit den Nazis] lässt sich überall entsprechend identifizieren.

 

Modaratorin Eva Lell: Sie haben es gerade angedeutet dieses Massaker von Babyn Jar, wo  Zehntausende Jüdinnen und Juden ermordet wurden - welche Bedeutung hat dieses Ereignis in der Ukraine bis heute?

 

Ricarda Vulpius:  Na, das ist für den Großteil der ukrainischen Bevölkerung nicht das Entscheidende, da ist der Holodomor sehr viel bedeutender. Babyn Jar ist ja in erster Linie ein entsetzlicher Erinnerungsort für die Juden. Aber es ist - Gott sei Dank -  ist es in den letzten Jahren nun doch auch zu einem vermehrten Gedenken innerhalb der ukrainischen Bevölkerung insgesamt gekommen. Und es gibt diverse Konzepte, wie man erinnern möchte: Es ist ein ganzer Park mit Erinnerungsdenkmalen entstanden. Aber man könnte sich noch eine sehr viel aktivere Erinnerung insgesamt innerhalb der Bevölkerung wünschen. Und es hat auch eine Zeitlang gedauert (auch leider von den Stadtbehörden), bevor man bereit war,  wirklich beim Namen zu nennen, dass hier in erster Linie Juden gestorben sind, ermordet worden sind und dass das nicht einfach nur „Sowjetbürger“ waren. Das war ja so die Politik der Sowjetunion, immer nur von sowjetischen Opfern zu sprechen und gar nichts zu differenzieren, weil angeblich gab es ja keine einzelnen ethnischen Gruppen.   

 

 

Modaratorin Eva Lell: Die Bundesregierung erklärt ja mit dieser historischen Verantwortung ihr „Nein“ zu Waffenlieferungen an die Ukraine. War … das ein Fehler?

 

Herfried Münkler:  Ja, das ist eine politische Entscheidungen bei der man - wie soll ich sagen - ziemlich beliebig und willkürlich Begründungen herbeigeführt hat. Man könnte  sozusagen unter Verweis auf die Verbrechen der Wehrmacht und der Nazis genauso sagen:  Wir haben eine besondere Verantwortung gegenüber diesen Leuten sicherzustellen, dass sie ihre Autonomie verteidigen können. Und mit … demselben Argument und vor allen anderen europäischen Ländern sind gerade die Deutschen verpflichtet, Waffen zu liefern - ein Argument das man ja im Hinblick auf Israel gerne gebraucht. Also, das ist nicht besonders hilfreich, wenn Politiker sich da die Geschichte aneignen und mit ihr freihändig hantieren, um Entscheidungen, die aus ganz anderen Begründungen heraus gefallen sind, zu legitimieren.

Und in diesem Falle war es auch doch obendrein besonders durchsichtig und von daher muss man sagen, letzten Endes auch dumm!

 

Modaratorin Eva Lell:  Die Halbinsel Krim ist ja bereits annektiert durch Russland.

Die Krim hat ihre eigene Geschichte, sie kam 1954 zur Ukraine.
Warum ist diese Halbinsel so wichtig, so umstritten - mit seiner bewegten Geschichte?  

 

Ricarda Vulpius:  Also, die Krim ist ein ganz herausragender Erinnerungsort für die Russen. Das liegt an vielen Gründen.

Es beginnt damit, dass der Legende nach auf der Krim in Chersones die Taufe der Rus stattgefunden haben soll, also der Fürst Wladimir der Erste das Christentum empfangen haben soll. Also die Wiege der Orthodoxen [Kiewer] Rus wird ... wird mit der Krim verbunden.

Der zweite, ganz wichtige Moment ist dann die Eroberung durch Katharina II, (die Große)  Ende des 18. Jahrhunderts. Mit dieser Eroberung geht einher eine Sicherung der südlichen Flanke des Zarenreiches. Und man muss sich wirklich vorstellen:  Die Krim war ein Sklavenmarkt ersten Ranges, dort wurden Russen verkauft als Sklave in alle möglichen asiatischen Gebiete. Und diese Unsicherheit an der südöstlichen Flanke (immer wieder von Krimtataren heimgesucht zu werden), die war beendet durch die Eroberung der Krim. Das ist also der zweite ganz wichtige Moment.

Der dritte wichtige Moment [war] dann im Krimkrieg im 19. Jahrhundert, als es zur Belagerung kommt. Zunächst war es ja ein russisch-osmanischer Krieg und anschließend haben dann die Briten und Franzosen sich auf der gegnerischen Seite (aus russischer Sicht) beteiligt. Und bei der Belagerung von Sewastopol, der Stadt auf der Krim, [ist] es zu einer viele hundert – ich glaube 300 Tage - dauernden Belagerung gekommen, die also zu heldenhaften Widerstand in der Erinnerung der Russen geführt hat. Und sehr sehr viele Tote - ich glaube 10.000 Soldaten, die dort auch begraben sind. Das ist also ein ganz weiter, ganz ganz wichtiger weiterer Änderungsordnung

Und der dritte wichtige Erinnerungsort ist dann die Tatsache, dass die russische Kultur sehr viel mit der Krim verbindet: Puschkin hat Bachtschissarai. den Sitz des damaligen Krim-Khanats besucht und hat ein großartiges Gedicht [Die Fontäne von Bachtschissarai] geschrieben, was die Schulkinder heute noch auswendig lernen. Anton Tschechow hat auf der Krim gelebt und geschrieben.  Eine bekannte Historikerin – Kerstin Jobst hat ein Buch über die Krim geschrieben (Geschichte der Krim) und hat es genannt die „Perle des Imperiums“.  Und nun kommt es im 20. Jahrhundert dann zur Eroberung durch die Deutschen und erneut zur Belagerung sind von Sewastopol und erneut zu einem auch aus deutscher Sicht heldenhaften Widerstand … gegen die Belagerung der Deutschen. Das war derartig legendär geworden, dass sogar Goebbels verbieten ließ, irgendetwas Positives über diesen Heldenepos der Sowjets zu äußern. Und das alles zusammen macht die Krim zu einem ganz ganz besonderen Ort im kollektiven Gedächtnis.

 

Modaratorin Eva Lell:  Und bis heute der strategische Punkt: der Marinehafen!

 

Herfried Münkler: Ja gut, ich meine man kann sagen die Krim ist jetzt strategisch betrachtet (nicht historisch betrachtet) so etwas wie ein unversenkbarer Flugzeugträger im Mittelmeer. Und insofern beherrscht, wer die Krim beherrscht, tendenziell das Schwarze Meer. Und das ist eine Auseinandersetzung, die schon in den Kriegen zwischen dem Osmanischen Reich und dem expandierenden Reich der Zaren eine Rolle gespielt hat.

Frau Vulpius hat ja darauf hingewiesen, das [dies] im Krimkrieg (Wo man sagen kann: Die Entscheidung dieses Krieges fällt auf einem sehr begrenzten Territorium)! der zentrale Punkt gewesen ist. Dieser Krieg hat vorher auch in ganz anderen Räumen stattgefunden.

Kurzum, man kann schon nachvollziehen, wenn man strategisch an die Dinge herangeht, wie Putin das tut, dass er sagt: „Ich brauch` unbedingt die Krim, sonst bin ich im Prinzip keine Macht mehr im Schwarzen Meer.“  und das wollte er ja wohl verhindern!

 

 

Modaratorin Eva Lell:  Wir bleiben bei der Strategie. [Schauen wir] auf die Zeit nach dem Ende der Sowjetunion schauen: Russland beruft sich heute auf eine Zusage, es werde keine NATO- Osterweiterung geben. 1996 hat Russland die „Russland-NATO-Grundakte“ unterzeichnet. Wie bewerten sie die Nato Osterweiterung - ein Fehler?

 

Herfried Münkler: Nein, das würde ich nicht sagen und ich meine gerade im Licht des heutigen Tages schon ganz und gar nicht nicht! Also jedenfalls, wenn man ein Einwohner Polens oder ein Einwohner eines baltischen Staates ist, dann wird man sehr zufrieden sein, dass man in der NATO ist. Und wenn man dieses Argument zugrunde legt, dann kann natürlich sagen: Ja ok, es gibt vielleicht bei den Russen so etwas wie Einkreisungs-Obsessionen (das wird man annehmen können). Und das kann man auch nicht widerlegen, indem man sagt: „Die NATO hat euch aber doch gar nicht tatsächlich eingekreist!“ Wenn man sich als eingekreist empfindet, dann agiert man eben so als [sei] man eingekreist.  

Aber wenn man dieses Argument ernst nimmt dann, war es vielleicht zu ganz anderen Zeitpunkten akut, aber in der gegenwärtigen Situation überhaupt nicht, wo sich die USA wesentlich auf China konzentriert haben, der Spalt zwischen den Europäern und den Amerikanern in der NATO in jeder Hinsicht sichtbar [ist] und die Europäer mit sich selber beschäftigt [sind]. Also, wenn dieses Argument ernst zu nehmen wäre, dann nicht zum jetzigen Zeitpunkt, wo eigentlich Russland und Putin in einer äußerst kommoden (bequemen) Situation waren, Das heißt, [das Argument] …ist vorgeschoben.

 

Ricarda Vulpius: Darf ich nur ganz kurz hier etwas ergänzen. Ich glaube, wir müssen unterscheiden zwischen der Regierung und der Bevölkerung. Ich glaube nicht, dass diese Angst der Einkreisung in der Bevölkerung sehr stark ist, aber bei Putin ganz offensichtlich. Er erscheint geradezu obsesiv. [von einer Idee extrem eingenommen]. Also, das hat er jedenfalls jetzt auch in dieser einstündigen Rede, die er gehalten hat, zum Thema gemacht, wie stark das doch … die eigene Sicherheit bedrohen würde. Ich kenne das, von den vielen Freunden und Kollegen, die in Russland habe, kenne ich diese Beschreibung nicht.

 

Modaratorin Eva Lell: Ich würde gern noch mal auf die Nachbarstaaten schauen, die sich ja ähnlich sind auch in der wirtschaftlichen Struktur - Oligarchen haben eine große Macht. An welchem Punkt ist ist die Ukraine abgebogen in der Entwicklung - in Richtung Demokratie?

 

Ricarda Vulpius: Na, also 1991 ist ja das wichtige entscheidende Datum, als sich die Ukraine unabhängig erklärte und das mit einem Referendum.

 

Modaratorin Eva Lell: Aber da entstand auch Russland, also dass der Schritt ist ja noch gleich …

Ricarda Vulpius:  Richtig, aber [in der Ukraine] war …. dieser Weg war dann verbunden …  mit einer starken Richtung, dass man sich [gegen] Westen orientieren wollte. Das war für die Ukraine eine Option, auch gleichzeitig sich von Russland zu distanzieren - und das war natürlich für Russland nicht die Option. Also das ist schon mal so rein geostrategisch ein großer Unterschied. Und dann sind die entscheidenden Zäsuren die „Orange Revolution“ von 2004 und natürlich dann der Maidan von 2014.

 

Modaratorin Eva Lell: Wenn man auf Belarus schaut, die verlorene Präsidentenwahl, dann der Einfluss Putins, er unterstützt militärisch und hat damit eine Einflusszone bis an die polnische Grenze: Wie wichtig war dieses Ereignis auch für die Strategie Putins?

 

Herfried Münkler: Ja, wahrscheinlich spielt die Entwicklungen in Belarus für die Veränderungen der Wahrnehmung geopolitischer Konstellationen eine entscheidende Rolle. In mancher Hinsicht kann man ja sagen: Belarus [und] die Ukraine waren so etwas wie Puffer zwischen den Russen und dem Westen. Aber, das waren natürlich nicht wirkliche Puffer,  sondern Lukaschenko hat ja sozusagen seine Schaukelpolitik gemacht: Mal hat er sich eher wieder den … Westeuropäern zugewandt und dann aber wieder auch Putin.

 

Modaratorin Eva Lell: Ähnlich auch wie die ukrainischen Präsidenten?

 

Herfried Münkler: Ganz ähnlich wie die ukrainischen Präsidenten. Und damit war natürlich immer (aus Moskauer Sicht) das Risiko verbunden, dass eines dieser Länder definitiv und endgültig sich dem Westen zuwendet. Und vermutlich haben die im Kreml die Ereignisse um die Präsidentschaftswahlen [in Belarus] und dann die niedergeschlagene Bewegung in Analogie zum Euro-Maidan [in der Ukraine] gesehen und darauf gesetzt: Unter keinen Umständen darf in diesem Bereich etwas passieren. Und nachdem sie in dieser Frage …erfolgreich gewesen sind, war es natürlich eine große Versuchung zu verhindern, dass … (in Beobachtung dessen was in Belarus passiert ist) die Ukrainer sagen: „Das ist aber für uns ein Grund, uns stärker an den Westen anzunähern“ und gewissermaßen präventiv eine Wiederholung der Beitrittsgesuche von Georgien und der Ukraine zur NATO zu verhindern.

 

Das hat Putin vorher schon gemacht, weil er ja wusste, dass die NATO nicht gerne oder eigentlich gar nicht Mitglieder aufnimmt, die offene Grenzfragen haben. Deswegen hat er die offenen Grenzfragen „Südossetien“ oder „Abchasien“ im Falle Georgiens geschaffen.

Und man kann auch sagen: Der Donbass war gewissermaßen für ihn das Instrument sicherzustellen, dass die NATO-Staaten nicht sagen: „Ja gerne, komm doch zu uns“.

Aber man scheint ab einem ganz bestimmten Punkt im Kreml zu dem Ergebnis gekommen zu sein.  das genügt vielleicht auf Dauer nicht mehr. Und von dem Augenblick an zieht man eine Forcierung dieser Politik mit dem Ziel, auf lange Zeit zu verhindern dass die Ukraine auf der Grundlage ihrer Interessen und des Willens der Mehrheit ihrer Bevölkerung sich nach Westen orientiert.

 

Ricarda Vulpius:  Ich würde aber ganz gerne eben noch einmal deutlich machen, dass wir jetzt doch mit einer sehr unterschiedlichen Entwicklung in Belarus und in der Ukraine zu tun haben, wo in der Ukraine (sie sagten zwar zu Recht, auch da gab es mal eine stärker [gegen] den Westen und nur eine Starke gern Osten gerichtete Regierung, aber das war jeweils verbunden mit einem Wechsel des Präsidenten, nicht das ist ja ein ganz großer Unterschied. Und wir haben … in der Ukraine selber in den letzten 20 Jahren genügend beobachten können: Es ist eine wirklich funktionierende Demokratie - die einzige, die von den dreien [Russland, Ukraine, Belarus] es schaffte, mehrfach Kandidaten zu ersetzen im Amt des Präsidenten.